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Die dunkle Seite des Sommers (German Edition)

Die dunkle Seite des Sommers (German Edition)

Titel: Die dunkle Seite des Sommers (German Edition)
Autoren: Stefanie Mohr
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unwiderruflich
verloren gehen würden, denn die meisten Informationen ließen sich, anders als
in diesem Fall, eben nicht in Listen festhalten.
    Wünnenberg riss ihn aus seinen
Gedanken. »Manfred besitzt übrigens nicht nur eine Adressenliste dieser
Einrichtungen, sondern auch ein paar interessante Statistiken. Insgesamt gibt
es rund eintausendfünfhundert Obdachlose in Nürnberg. Ungefähr fünfzig davon
schlafen auf der Straße, die anderen sind in verschiedenen von der Stadt
angemieteten Wohnungen, Pensionen und anderen Einrichtungen untergebracht.«
    Als Erstes fuhren Hackenholt
und Wünnenberg zur Heilsarmee in die Gostenhofer Hauptstraße, die dem Präsidium
am Jakobsplatz am nächsten lag. Sie hatten Glück und fanden eine leere
Parkbucht gleich rechts vom Eingang. Von außen sah das Gebäude unscheinbar aus,
eher wie ein modernes Businesshotel. Nur die Videokameras sowie das dezent in
luftiger Höhe an der Fassade angebrachte Logo der Heilsarmee verrieten die
wahre Funktion des Hauses. Vor dem Gebäude, dessen ehemals altrosa Anstrich von
den Abgasen grau geworden war, standen zwei Bäume. Die gläserne Schiebetür und
der dahinter befindliche lange Empfangstresen erinnerten wiederum an ein Hotel.
An der Rezeption wurden sie freundlich empfangen. Hackenholt blickte sich
verstohlen um, während Wünnenberg nachfragte, ob der Leiter zu sprechen sei.
Auch wenn die Räumlichkeiten etwas steril wirkten, waren sie immerhin in einem
freundlichen Gelb gestrichen.
    Der Kapitän der Heilsarmee ließ
nicht lange auf sich warten. Hackenholt war überrascht, dass er auch am Sonntag
anwesend war. Ohne lange Umschweife kam der Hauptkommissar zur Sache und zeigte
dem Mann das mitgebrachte Bild des Toten.
    Der Leiter musterte das Foto
aufmerksam. »Im Tod sehen sie alle so anders aus.« Dann schüttelte er den Kopf.
»Trotzdem bin ich mir sicher, dass ich den Mann hier bei uns noch nie gesehen
habe. Aber wenn Sie möchten, kann ich das Bild in den kommenden Tagen unter den
Mitarbeitern herumzeigen. Wir betreuen rund zweihundertfünfzig Männer und
Frauen stationär in unseren Häusern. Von denen kenne ich die meisten
persönlich, aber vielleicht hat er nur unseren Tagestreff aufgesucht. Das
könnte durchaus sein, dann würde ich ihn wohl nicht wiedererkennen.
Andererseits kann er natürlich auch in einer der anderen Notunterkünfte für
Männer genächtigt haben. Kennen Sie die verschiedenen Anlaufstellen?«
    Hackenholt bejahte, dankte dem
Kapitän für seine Hilfe und gab ihm eine Visitenkarte mit der Bitte anzurufen,
falls jemand den Mann erkannte.
    Im Haus Großweidenmühlstraße,
das von Insidern meistens nur »Männerwohnheim« genannt und vom Sozialamt
betrieben wurde, dauerte es etwas länger, bis auf ihr Läuten hin jemand an der
Pforte erschien. Dem Aussehen nach war es ein sehr junger Zivildienstleistender,
der sie ins Büro führte. Seine Haare trug er zu einem modischen Iro gestylt,
der zur Zeit bei den Teens und Twens wieder beliebt war, jedoch nur im
Entferntesten etwas mit dem klassischen Irokesenschnitt der Punkszene zu tun
hatte. Der Zivi betrachtete das Foto und nickte dann langsam.
    »Ja, ich glaube, den habe ich
hier schon mal gesehen. Einen Moment. Ich hole mal Rudi, unseren
Sozialarbeiter. Der hat ein Gedächtnis wie ein Elefant.« Er griff zum
Haustelefon und bat seinen Kollegen, ins Büro zu kommen.
    Der Mann namens Rudi besah sich
das Bild nur einen kurzen Augenblick, bevor er zu einem Aktenschrank ging und
eine Schublade herauszog, der er mit gezieltem Griff einen Hängeordner entnahm.
    »Das ist Heinrich Gruber. Dr.
Heinrich Gruber. Alle nannten ihn nur Professor.«
    »Dr. Heinrich Gruber?«, fragte
Wünnenberg erstaunt. »Besaß er wirklich einen Doktortitel?«
    Der Sozialarbeiter nickte und
reichte Wünnenberg die schmale Akte, damit er sich die Personalien notieren
konnte. »Wir sind verpflichtet, uns immer den Ausweis der Männer zeigen zu
lassen, wenn wir sie bei uns aufnehmen, egal wie lange sie bleiben. Wenn ich
mich richtig erinnere, war er Allgemeinmediziner.«
    »Und wie kam es, dass er …?«
Hackenholt machte eine Handbewegung, die das Gebäude umfasste.
    »Wie es kam, dass er hier bei
uns gelandet ist? Wohnsitzlos? Sozial geächtet? Alkoholabhängig? Ein Penner?«
Der Sozialarbeiter lächelte traurig. »Sie müssen sich das als eine Art
Teufelskreis vorstellen. Im Leben dieser Menschen passiert etwas Einschneidendes,
das alles verändert und ihnen den Boden unter den Füßen wegzieht.
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