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Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau
Autoren: Fred Vargas
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vorbeikommen.«
    »Aber sie? Sie wird doch hier nicht etwa schlafen, Ihre Frau?«
    Adamsberg krauste die Stirn, während die Hand des Alten sich auf seinen Arm legte und seine Aufmerksamkeit suchte.
    »Glauben Sie nicht, Sie seien stärker als andere«, sagte der alte Mann mit gesenkter Stimme. »Verkaufen Sie. Das sind Dinge, die wir nicht begreifen. Das geht über unseren Horizont.«
    »Was?«
    Lucio bewegte die Lippen, kaute auf seiner erloschenen Zigarette herum.
    »Sehen Sie das?« sagte er und hob seinen rechten Arm.
    »Ja«, sagte Adamsberg ehrfurchtsvoll.
    »Hab ich verloren, als ich neun Jahre alt war, im Bürgerkrieg.«
    »Ja.«
    »Und manchmal juckt es mich da. Es juckt mich auf meinem fehlenden Arm, neunundsechzig Jahre später. An einer ganz bestimmten Stelle, immer an derselben«, sagte der Alte und zeigte auf einen Punkt in der Luft. »Meine Mutter wußte, warum: Das ist der Spinnenbiß. Als ich meinen Arm verlor, kratzte ich ihn gerade und war noch nicht fertig. Darum juckt er mich noch immer.«
    »Ja, natürlich«, sagte Adamsberg und rührte lautlos in seinem Mörtel.
    »Weil der Biß noch nicht aufgehört hatte zu leben, verstehen Sie? Er fordert, was ihm zusteht, er rächt sich. Erinnert Sie das nicht an irgendwas?«
    »An die Sterne«, überlegte Adamsberg. »Sie leuchten noch, während sie schon längst erloschen sind.«
    »Wenn Sie so wollen«, gab der Alte überrascht zu. »Oder ans Gefühl: Nehmen Sie einen Mann, der noch immer ein Mädchen liebt, oder umgekehrt, während doch alles längst kaputt ist, wissen Sie, was ich meine?«
    »Ja.«
    »Und warum liebt der Mann noch immer das Mädchen, oder umgekehrt? Wie erklärt sich das?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Adamsberg geduldig.
    Zwischen zwei Windstößen wärmte die blasse Märzsonne ihm sanft den Rücken, er fühlte sich wohl, wie er hier in diesem verwilderten Garten eine Mauer hochzog. Lucio Velasco Paz mochte auf ihn einreden, soviel er wollte, es störte ihn nicht.
    »Ganz einfach, weil das Gefühl noch nicht aufgehört hat zu leben. So was existiert außerhalb von uns. Man muß warten, bis es zu Ende geht, man muß an der Sache herumkratzen bis zuletzt. Und wenn man stirbt, bevor man aufgehört hat zu leben, ist es genauso. Die Ermordeten geistern weiter im Nichts herum, eine Brut, die uns unablässig juckt.«
    »Spinnenbisse«, sagte Adamsberg und schloß so den Kreis.
    »Gespenster«, sagte der Alte ernst. »Verstehen Sie jetzt, warum niemand Ihr Haus wollte? Weil es in ihm spukt, hombre. «
    Adamsberg machte den Zementkübel sauber und rieb sich die Hände.
    »Warum nicht?« sagte er. »Das stört mich nicht. Ich bin’s gewohnt, daß ich manches nicht begreife.«
    Lucio hob das Kinn und betrachtete Adamsberg ein wenig traurig.
    »Dich, hombre, wird sie sich greifen, wenn du hier große Töne spuckst. Was glaubst du denn? Daß du stärker bist als sie?«
    »Wieso sie? Ist es eine Frau?«
    »Eine Gespensterfrau aus dem vorvorvorigen Jahrhundert, aus der Zeit vor der Revolution. Eine alte Übeltäterin, ein Schatten.«
    Der Kommissar strich langsam über die rauhe Oberfläche der Mauersteine.
    »Ach ja?« sagte er plötzlich nachdenklich. »Ein Schatten?«

2
    Adamsberg, noch nicht recht vertraut mit dem Ort, bereitete in der geräumigen Wohnküche Kaffee. Das Licht, das durch die in kleine Vierecke aufgeteilten Fenster fiel, erhellte das matte Rot des alten Fliesenbodens, auch der war aus dem vorvorvorigen Jahrhundert. Ein Geruch nach Feuchtigkeit, verbranntem Holz und neuem Wachstuch, etwas, das er mit seinem Haus in den Bergen verband, wenn er genau überlegte. Er stellte zwei ungleiche Tassen auf den Tisch, da, wo die Sonne ein Rechteck hinwarf. Sein Nachbar hatte sich sehr aufrecht hingesetzt und stützte seine einzige Hand aufs Knie. Eine breite Hand, die zwischen Daumen und Zeigefinger einen Ochsen hätte erdrosseln können; sie schien doppelt groß geworden zu sein, um die fehlende andere zu kompensieren.
    »Hätten Sie nicht irgendein Tröpfchen, um den Kaffee runterzuspülen? Nur so eine Frage.«
    Lucio warf einen mißtrauischen Blick in Richtung Garten, während Adamsberg in seinen noch übereinandergestapelten Kartons nach etwas Alkoholischem suchte.
    »Ist Ihre Tochter dagegen?« fragte er.
    »Sie bestärkt mich nicht gerade.«
    »Das hier? Was ist das?« fragte Adamsberg und zog eine Flasche aus einer Kiste.
    »Ein Sauternes«, meinte der Alte mit zusammengekniffenen Augen, gleich einem Ornithologen, der aus der Ferne
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