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Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau
Autoren: Fred Vargas
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für eine Weile von den banalen Morden ab, die er am Hals hatte. Dieses weibliche Gespenst war doch weitaus poetischer als die beiden aufgeschlitzten Burschen vergangene Woche an der Porte de la Chapelle. Fast hätte er Lucio von seinem eigenen Fall erzählt, schien der alte Spanier doch eine sichere Meinung zu allem zu haben. Er mochte diesen einhändigen, weisen Spaßvogel, wäre nur nicht sein Radio gewesen, das unablässig in seiner Tasche vor sich hin summte. Auf ein Zeichen von Lucio schenkte er ihm nach.
    »Wenn alle Ermordeten im Nichts herumgeistern müssen«, fuhr Adamsberg fort, »wie viele Gespenster gibt es dann in meinem Haus? Die heilige Clarisse plus ihre sieben Opfer? Plus die beiden Frauen, die Ihr Vater gekannt hat, plus Madelaine? Elf? Oder noch mehr?«
    »Nur Clarisse«, versicherte Lucio. »Ihre Opfer waren zu alt, die sind nie zurückgekehrt. Es sei denn, sie halten sich in ihren eigenen Häusern auf, das ist durchaus möglich.«
    »Ja.«
    »Bei den drei anderen Frauen liegen die Dinge anders. Sie sind nicht ermordet worden, sie waren besessen. Während die heilige Clarisse ihr Leben noch nicht zu Ende gelebt hatte, als der Gerber sie unter seinen Fäusten zermalmte. Begreifen Sie jetzt, warum man das Haus nie abreißen wollte? Weil Clarisse sich einfach eine andere Bleibe gesucht hätte. Bei mir zum Beispiel. Und wir alle hier in der Gegend ziehen es vor, zu wissen, wo sie sich verborgen hält.«
    »Hier.«
    Lucio bestätigte mit einem Zwinkern.
    »Und solange man seinen Fuß nicht hierhersetzt, richtet sie keinen Schaden an.«
    »Sie ist gewissermaßen eine Stubenhockerin.«
    »Sie geht nicht mal in den Garten. Sie wartet da oben auf ihre Opfer, auf Ihrem Dachboden. Und jetzt hat sie wieder Gesellschaft.«
    »Mich.«
    »Sie«, bestätigte Lucio. »Aber Sie sind ein Mann, sie wird Sie nicht allzusehr schikanieren. Sie treibt nur Frauen in den Wahnsinn. Bringen Sie Ihre Frau nicht hierher, folgen Sie meinem Rat. Oder aber verkaufen Sie.«
    »Nein, Lucio. Ich mag dieses Haus.«
    »Dickschädel, was? Woher stammen Sie?«
    »Aus den Pyrenäen.«
    »Dem großen Gebirge«, sagte Lucio voller Ehrerbietung. »Ich brauche also gar nicht erst zu versuchen, Sie zu überzeugen.«
    »Kennen Sie es?«
    »Ich bin auf der anderen Seite geboren, hombre. In Jaca.«
    »Und die Leichen der sieben alten Frauen? Hat man zu der Zeit, als der Prozeß stattfand, nach ihnen gesucht?«
    »Nein. Damals, im vorvorvorigen Jahrhundert, stellte man noch keine Ermittlungen wie heutzutage an. Wahrscheinlich sind die Leichen immer noch da drunter«, meinte Lucio, wobei er mit seinem Stock in den Garten wies. »Deshalb hackt man auch nicht allzu tief. Man will den Teufel nicht reizen.«
    »Nein, wozu auch?«
    »Sie sind wie Maria«, sagte der Alte lächelnd, »es amüsiert Sie. Aber ich habe sie oft gespürt, hombre. Nebelschwaden, Dunst und dann ihr Atem, eisig wie der Winter oben auf den Bergspitzen. Und vorige Woche, ich pinkelte nachts unter den Haselnußstrauch, da habe ich sie tatsächlich gesehen.«
    Lucio trank sein Glas Sauternes aus und kratzte seinen Biß.
    »Sie ist mächtig alt geworden«, sagte er in beinahe angeekeltem Ton.
    »Ist immerhin eine Ewigkeit her«, meinte Adamsberg.
    »Natürlich. Clarisses Gesicht ist runzlig wie eine alte Nuß.«
    »Wo war sie?«
    »Im Obergeschoß. Sie ging in dem Zimmer oben hin und her.«
    »Das wird mein Arbeitszimmer.«
    »Und wo werden Sie Ihr Schlafzimmer einrichten?«
    »Nebenan.«
    »Sie haben wirklich Mut, Mann«, sagte Lucio und stand auf. »Ich bin doch nicht etwa zu grob gewesen? Maria will nicht, daß ich grob bin.«
    »Ganz und gar nicht«, sagte Adamsberg, der sich plötzlich im Besitz von sieben Leichen unter den Füßen und einer Gespensterfrau mit einem Nußgesicht sah.
    »Um so besser. Vielleicht gelingt es Ihnen ja, sie zu besänftigen. Obwohl es heißt, nur ein sehr alter Mann werde sie zur Strecke bringen. Aber das sind Legenden. Glauben Sie nur nicht jeden Blödsinn.«
    Wieder allein, trank Adamsberg den Rest seines kalten Kaffees aus. Dann hob er den Kopf zur Decke und lauschte.

3
    Nachdem er eine ruhige Nacht in der lautlosen Gesellschaft der heiligen Clarisse verbracht hatte, stieß Kommissar Adamsberg die Tür zum gerichtsmedizinischen Institut auf. Neun Tage zuvor war zwei Männern an der Porte de la Chapelle die Kehle durchgeschnitten worden, nur ein paar hundert Meter voneinander entfernt. Zwei arme Würstchen, zwei Kleinganoven, die auf dem Flohmarkt
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