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Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Titel: Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
Autoren: H. Gilbert Welch , Lisa M. Schwartz , Steven Woloshin
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fast jeder Patient mit schwerem Bluthochdruck von einer Behandlung profitiert, muss man achtzehn Patienten mit leichtem Bluthochdruck behandeln, damit einer einen Nutzen davon hat.
    Weil das zweite Prinzip so wichtig ist, um den Rest des Buches zu verstehen, möchte ich es mit Abbildung 1.2 (nächste Seite) noch einmal grafisch darstellen.
    Die horizontale Achse der Abbildung zeigt das Grad der Anomalie. Die meisten Abweichungen, auch der Bluthochdruck, sind variabel: von sehr leicht bis schwer. In der Regel nimmt der Nutzen einer Behandlung mit der Schwere der Anomalie zu. Natürlich hängen die beiden oben genannten Prinzipien eng miteinander zusammen. Der Grund dafür, dass Patienten mit milderen Anomalien normalerweise weniger von einer Behandlung profitieren, liegt darin, dass mildere Anomalien seltener zu Symptomen oder gar zum Tod führen als schwere. Mit anderen Worten: Mildere Anomalien führen mit größerer Wahrscheinlichkeit zu Überdiagnosen. Den meisten Menschen drohen wegen ihrer milden Anomalien keine negativen Folgen. Und wer Opfer einer Überdiagnose wird, kann von einer Behandlung schon deshalb nicht profitieren, weil es nichts zu beheben gibt.

    Abbildung 1.2 Beziehung zwischen dem Grad der Anomalie und dem Nutzen der Behandlung bei Bluthochdruck
    Vielleicht denken Sie nun: »Na und? Wenn die Chance besteht, dass das Medikament mir hilft, warum soll ich es dann nicht nehmen?« Einer der Gründe könnte das Geld sein. Manche Menschen müssen einen großen Teil ihres Einkommens für Medikamente ausgeben und sparen deshalb am Notwendigsten, zum Beispiel am Essen. Ein weiterer Grund, ein Medikament nicht zu nehmen, ist der Aufwand: Sie müssen einen Arzt besuchen, sich ein Rezept ausstellen lassen, einen Labortest machen, rechtzeitig um ein neues Rezept bitten und sich mit der Versicherung auseinandersetzen. Außerdem haben manche Leute keine Lust, täglich Medikamente einzunehmen.
    Aber wischen wir einmal all diese Argumente vom Tisch. Angenommen, die Behandlung ist kostenlos, Sie haben keinen Aufwand und es stört Sie auch nicht, jeden Tag Tabletten zu schlucken. In diesem Fall würde sich jeder gerne behandeln lassen, unabhängig von der Schwere der Symptome und vom Umfang des Nutzens, oder?
    Es sei denn, die Behandlung hat auch Nachteile, irgendwelche negativen Folgen.
Wenn die Behandlung schlimmer als die Krankheit ist
    Ich behandle vor allem ambulante Patienten, nicht stationäre. Viele Patienten, die ich in der Klinik regelmäßig sehe, könnte man als »Vermonter« vom alten Schlag bezeichnen – robuste, ältere Männer, die den größten Teil ihres Lebens im Freien verbracht haben. (Und da ich für das Veteranenministerium arbeite, waren alle meine Patienten beim Militär.) Einer dieser Patienten, Mr. Bailey, ist ein zweiundachtzigjähriger Mann, der allein auf einer Farm lebt, etwa vierzig Kilometer vom Krankenhaus entfernt. Er arbeitet fast jeden Tag im Freien: Er beseitigt Gestrüpp, harzt Ahornbäume, schaufelt Schnee, baut Mauern aus Stein, kümmert sich ums Vieh oder repariert das Haus. Telefonisch kann ich ihn nur nach Einbruch der Dunkelheit erreichen, und er besitzt keinen Anrufbeantworter.
    Zum Glück musste ich Mr. Bailey bisher nicht oft anrufen, weil er ziemlich gesund ist. In den vergangenen zehn Jahren haben wir uns ein- oder zweimal im Jahr in der Klinik gesehen, und meist unterhalten wir uns nur. Offen gestanden habe ich nicht viel für ihn getan. Er wurde nie stationär behandelt. Das einzige Medikament, das ich ihm regelmäßig verschreibe, braucht er wegen einer gutartigen Prostatavergrößerung, die bei Männern im mittleren und höheren Alter häufig vorkommt. Dabei wächst die Prostata, drückt die Harnröhre zusammen und stört dadurch die normale Entleerung der Blase (ähnlich wie eine Klemme am Gartenschlauch). Wir haben über ein Medikament gegen seine gelegentlichen Depressionen nachgedacht; aber sie waren nie so schwer, dass ich darauf bestanden hätte, und er war nie darauf erpicht, deswegen Tabletten zu schlucken. Was medizinische Maßnahmen anbelangt, ist er ziemlich zurückhaltend.
    Obwohl viele meiner Patienten zu uns kommen, um sich behandeln zu lassen (weil sie glauben, dass eine Behandlung ihnen nur gut tun kann), denkt ein beträchtlicher Teil von ihnen wie Mr. Bailey. Sie lassen sich nicht gerne operieren und zögern, Medikamente wegen eines Problems einzunehmen, das sie für nebensächlich halten. Und sie sind von Natur aus skeptisch gegenüber
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