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Die Chronolithen

Die Chronolithen

Titel: Die Chronolithen
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vielsagend an. »Schwer zu glauben, dass sie wirklich gegangen ist.«
    »Glauben Sie es«, sagte ich.
    Denn ein Geheimnis ist nur so lange ein Geheimnis, wie du es nicht verrätst.
    »Sie wissen, dass ich ein altmodischer Christ bin, Scotty. Ich weiß nicht genau, woran Sue geglaubt hat, außer an diesen hinduistischen Shiva. Aber sie war ein guter Mensch, finden Sie nicht?«
    »Der beste.«
    »Sehen Sie. Ich konnte mir nicht erklären, warum sie wollte, dass ich hierbleibe, und Sie mit nach Wyoming sollten. Nichts für ungut, aber da war ich stinksauer. Doch jetzt denke ich, ich war richtig hier.«
    »Das können Sie laut sagen.«
    »Glauben Sie, sie hat das von Anfang an vorgehabt? Ich meine, sie hatte es ja mit der Zukunft.«
    »Ich glaube, sie hat uns ganz gut gekannt.«
    Mich wird sie gewählt haben, weil ihr Morris nichts genutzt hätte. Er hätte sie niemals in die Löwengrube gehen lassen. Und er hätte bestimmt nicht Hitch Paley erschossen.
    Morris war ein guter Mensch.

 
ACHT +
ZWANZIG
     
     
    Neulich habe ich zwei weltbekannte Orte besucht, Sie wissen schon.
    Das Reisen fällt mir immer schwerer. Medikamente halten meine verschiedenen Altersbeschwerden in Schach – ich bin mit siebzig gesünder als mein Vater mit fünfzig –, doch das Alter bringt seine eigene Müdigkeit hervor. Wir sind, glaube ich, regelrechte Gramkübel und am Ende sind wir randvoll damit.
    Ich fuhr allein nach Wyoming.
    Der Wyoming-Krater ist heute eine eher kleine, aber einzigartige Gedenkstätte. Für die meisten Amerikaner war Wyoming nur der Anfang des zwanzigjährigen Chronolithenkrieges. Die denkwürdigen Schlachten dieser Generation, der Generation von Kait und David, sind mit dem Persischen Golf, Canberra, First Beijing und Kwangtung verbunden. – Hier in Wyoming war doch fast niemand gestorben.
    Fast niemand.
    Der Krater ist eingezäunt und wird jetzt als Nationaldenkmal geführt. Touristen können auf eine Plattform oben auf dem Steilfelsen klettern und aus einiger Entfernung auf die Ruinen hinunterstarren. Ich aber wollte näher heran. Ich fühlte mich dazu berechtigt.
    Der Wachmann am Haupteingang meinte, das sei unmöglich, bis ich ihm erklärte, ich sei schon 2039 hier gewesen, und ihm die Narbe zeigte, die vom linken Ohr bis zum fliehenden Haaransatz reichte. Der Mann war ein Veteran – Panzertruppe, Kanton, Blutwinter 2050. Er riet mir, in der Nähe zu bleiben, bis das Besucherzentrum um 17.00 Uhr schloss; dann wollte er sehen, was sich machen ließe.
    Schließlich war er bereit, mich auf seiner abendlichen Inspektionsfahrt mitzunehmen. Wir fuhren mit einem kleinen Zweisitzer von der Größe eines Golfmobils den steilen Pfad hinunter und parkten am Rand des Kraters. Der Mann scrollte eine Tageszeitung durchs Lesegerät und gab vor, ich könne ein paar Minuten unbeobachtet in den langen Schatten herumspazieren.
    Es hatte fast einen Zoll geregnet in diesem Mai. Im flachen Krater stand ein winziger brauner Teich, Salbeisträucher blühten an den gefurchten, erodierten Hängen.
    Einige wenige Fragmente des Kuin-Monuments waren erhalten geblieben.
    Sie waren ebenfalls erodiert. Die Tau-Instabilität, das Aufdröseln komplizierter Calabi-Yau-Knoten, hatte die exotische Substanz des Chronolithen in gewöhnliche Silikatschmelze verwandelt: kiesiges blaues Glas, beinah so brüchig wie Sandstein.
    Als amerikanische Kuinisten diesen Teil des Landes kontrolliert hatten, war es hier im Laufe der Westlichen Sezession zu Luftangriffen gekommen. In den dunkelsten Stunden des Krieges hatten die Milizen Wyoming beansprucht, hatten vermutlich (es gab keine lebenden Zeugen mehr) den Versuch unternommen, die Geschichte zu korrigieren, indem sie den riesigen Kuin von Wyoming rekonstruiert und die Bilder rund um die Welt geschickt hatten. Aber sie waren schlecht beraten gewesen. Von wem? Von jemandem, der sie dazu gebracht hatte, die Hüllkurve der Stabilität zu überdehnen.
    Die Geschichtsschreibung kennt keinen Namen für diesen Wohltäter.
    Ein Geheimnis ist ein Geheimnis.
    Doch, wie Sue auch zu sagen pflegte, es gibt keinen Zufall.
    Ich stand eine Zeit lang an einem Fragment von Kuins Kopf, ein verwittertes Stück der Stirn und ein intaktes Auge. Die Pupille war eine konkave Vertiefung von der Größe eines Lkw-Reifens. Staub und Regen hatten sich darin gesammelt, und eine wilde Distel hatte Fuß gefasst.
    An den Chronolithen ist die Geschichtsschreibung ebenso gescheitert wie die Logik. Die Inszenierung eines Chronolithen ist
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