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Die Chorknaben

Die Chorknaben

Titel: Die Chorknaben
Autoren: Joseph Wambaugh
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Bemerkungen könnten etwas Klarheit über die Motive verschaffen.
    Eine unterstrichene Passage aus Sokrates lautete: ›Einem guten Menschen kann nichts Böses widerfahren, weder im Leben noch nach dem Tod.‹ Eine Stelle aus Euripides: ›Wenn gute Menschen sterben, vergeht ihre Güte nicht, sondern lebt weiter, auch wenn sie längst nicht mehr unter uns weilen. Was die schlechten betrifft, so stirbt alles, was sie besessen haben, und wird mit ihnen begraben.‹ Auch aus Cicero hatte Baxter eine Stelle angestrichen; es war die einzige, in der nicht unmittelbar von Gut und Böse und vom Tod die Rede war. Sie entlockte Sam Niles ein lautes Stöhnen, das den Detektiv aufschrecken ließ. Sie lautete: Derjenige raubt der Freundschaft ihre größte Zier, der ihr die Achtung entzieht.
    Sam nahm seine Brille ab und putzte sie, bevor er die letzte Seite las. Sie war von vertrocknetem Blut bedeckt. Sams Hände zitterten so sehr, daß der Detektiv sich ernsthaft Sorgen machte. Sam las die Stelle schließlich und verließ den Raum, ohne dem Detektiv für seine Hilfe zu danken. Die unterstrichene Passage lautete: ›Was ist, Catullus? Weshalb eilst du nicht, zu sterben?‹

 

    14
    Der ›Stöhnende Mann‹
    A n jenem Tag, an dem Baxter Slate starb, sehnten sich die Chorknaben nach Dienstschluß mehr denn je zuvor nach einer Singstunde. Als Pater Willie ganz ruhig fragte: »Werden wir denn nach wie vor unsere Singstunden abhalten?« erwiderte Spencer van Moot wütend: »Natürlich machen wir mit den Singstunden weiter. Verdammt noch mal, was ist denn mit dir los?« Noch nie hatten sich die Chorknaben im MacArthur Park so exzessiv betrunken. Sie knurrten sich gegenseitig an und soffen düster in sich hinein, und zwar alle – bis auf Roscoe, der den Auftrag erhalten hatte, fünf überzählige Säufer von der Wilshire Station ins Central Jail zu bringen, und bis ein Uhr früh noch nicht im Park aufgetaucht war.
    Bevor sie die Abwesenheit Roscoes noch mit zu großer Dankbarkeit zur Kenntnis nahmen, erschien plötzlich aus dem Nichts ein blauer Laster, der ohne Licht über den Rasen des MacArthur Parks rumpelte und in den tiefsten Schatten unter den Bäumen holpernd stehenblieb.
    »Ich habe schon gehofft, mich problemlos besaufen zu können«, seufzte Calvin Potts, als Roscoe Rules, immer noch in Uniform, aus dem Gefangenentransporter sprang und über den Rasen auf sie zugetrottet kam.
    »Hey!« brüllte ihnen Roscoe gut gelaunt entgegen, was bereits genügte, um alle Anwesenden so richtig wütend auf ihn zu machen. »Ich war eigentlich auf dem Weg zur Wache, aber das muß ich euch doch gleich erzählen!«
    »Was erzählen, Roscoe?« brummte Spermwhale. Er lag auf seiner Decke, eine Dose Bier auf seinem mächtigen Bauch, und starrte zu dem mondlosen, smogbedeckten Sommerhimmel hoch, in dem diesmal nicht einmal Baxter Slates heller Stern zu sehen war.
    »Nachdem ich die Besoffenen abgeliefert hatte, habe ich im Central Jail einen Kerl getroffen, den ich kenne. Er ist in der Innenstadt bei der Mordkommission. Und stellt euch vor, was die festgestellt haben, als sie in der Gerichtsmedizin Baxter Slates Leiche untersucht haben? Peitschenstriemen! Am ganzen Rücken! Alles voller Striemen! Sie glauben, daß er irgendwie pervers war. Ich habe ja immer gesagt, daß der Kerl ein bißchen komisch ist, aber Striemen! Von einer Peitsche!«
    »Was? Was hast du gesagt?« fuhr Sam Niles auf, der im Dunkel auf dem kühlen Rasen saß. Er zerschnitt sich die Hände an einer Bierdose, die er in der Mitte auseinanderriß.
    »Na ja, besonders viel habe ich ja nie von ihm gehalten«, fuhr Roscoe fort. »Aber gleich so was! Striemen auf dem Rücken! Die Untersuchungsbeamten glauben, daß er irgend so ein Verrückter oder Perverser war. Ihr wißt ja selbst, wie tuntig er immer dahergeredet hat …« Und dann sollte sich Roscoe Rules sogar noch mehr wundern als Gina Summers, wie schnell Sam Niles sich bewegen konnte. Roscoe wurde zweimal von Sams Fäusten getroffen, bevor er rücklings zu Boden stürzte. Sam zerrte ihn an seinem Uniformhemd wieder hoch und schlug diesmal so hart zu, daß Sams Brille weiter durch die Luft flog als der Splitter von Roscoes Zahn.
    Spermwhale Whalen überwältigte Sam, und verschiedene andere hielten Roscoe zurück, der es sich auf keinen Fall nehmen lassen wollte, Sam die Milz zu punktieren, obwohl Spermwhale ihn mit aller Gewalt festhielt. Der Park erschallte vom Geschrei der Chorknaben und vom Gequake und Geschnatter der
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