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Die Chancellor

Die Chancellor

Titel: Die Chancellor
Autoren: Jules Verne
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bis 13. Oktober. – Der Wind weht mit einer gewis-
    sen Heftigkeit aus Nordosten, und die ›Chancellor‹ hat
    mit gerefften Marssegeln und den Focksegeln beilegen
    müssen.
    Die See geht hoch, und das Schiff arbeitet schwer. Die
    Zwischenwände der Kabinen seufzen mit einem ner-
    venerschütternden Geräusch. Die Passagiere halten sich
    in der Hauptsache unter Deck auf.
    Ich allein ziehe es vor, auf dem Verdeck zu bleiben.
    Aus der »frischen Brise« ist die Bewegung der Luft-
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    schichten in die der »scharfen Windstöße« übergegan-
    gen. Die Bramstengen sind herabgelassen. Der Wind
    legt jetzt in der Stunde 50 bis 60 Meilen (d.h. an die
    30 Meter in der Sekunde) zurück. Seit 2 Tagen fahren
    wir so dicht wie möglich am Wind. Trotz der guten Ei-
    genschaften der ›Chancellor‹ weicht das Schiff merklich
    ab und wir treiben mehr nach Süden. Der durch Wolken
    verdunkelte Himmel gestattet keine Aufnahme der Son-
    nenhöhe, und da man die Lage des Schiffes demnach
    nicht zu bestimmen vermag, muß man sich mit einer
    Schätzung begnügen.
    Meinen Reisegefährten, gegen die sich der zweite Of-
    fizier nicht ausgesprochen hat, ist es völlig unbekannt,
    daß wir einen ganz unerklärlichen Weg verfolgen. Eng-
    land liegt im Nordosten und wir segeln nach Südosten!
    Robert Kurtis vermag sich die Hartnäckigkeit des
    Kapitäns nicht zu erklären, der doch mindestens versu-
    chen sollte, nordwestlich zu steuern, um günstige Strö-
    mungen zu erreichen! Seitdem der Wind nach Nordos-
    ten gegangen ist, treibt die ›Chancellor‹ mehr und mehr
    nach Süden.
    Heute, als ich mich mit Robert Kurtis allein auf dem
    Oberdeck befand, sprach ich ihn deswegen an.
    »Ist Ihr Kapitän von Sinnen?« fragte ich.
    »Das möchte ich Sie fragen, Herr Kazallon«, antwor-
    tete mir Robert Kurtis, »da Sie ihn aufmerksam beob-
    achtet haben.«
    — 27 —
    »Ich weiß nicht recht, was ich Ihnen darauf antwor-
    ten soll, Herr Kurtis, doch gestehe ich, daß seine ganz
    eigentümliche Physiognomie, seine verstörten Augen . . .
    fahren Sie zum ersten Mal mit ihm?«
    »Ja, er war mir früher unbekannt.«
    »Und Sie haben ihm Ihre Bemerkungen über den von
    uns eingeschlagenen Weg nicht vorenthalten?«
    »Gewiß nicht, doch er entgegnete mir, daß das der
    richtige sei.«
    »Herr Kurtis«, fuhr ich fort, »was denken aber Leut-
    nant Walter und der Hochbootsmann darüber?«
    »Sie denken wie ich.«
    »Und wenn Kapitän Huntly das Schiff nach China
    führte?«
    »Dann würden sie gehorchen wie ich.«
    »Der Gehorsam hat aber seine Grenzen?«
    »Nein, solange die Führung des Kapitäns das Schiff
    nicht in Gefahr bringt.«
    »Wenn er aber geisteskrank wäre?«
    »Ja, wenn er das ist, Herr Kazallon, dann werde ich
    sehen, was zu tun ist!«
    An solche Verhältnisse hatte ich freilich nicht ge-
    dacht, als ich mich auf der ›Chancellor‹ einschiffte.
    Inzwischen ist das Wetter immer schlechter gewor-
    den; über den Atlantischen Ozean braust ein vollkom-
    mener Sturm. Das Schiff war gezwungen, mit dem gro-
    ßen Bramsegel und dem kleinen Focksegel beizule-
    — 28 —
    gen, d.h. es bietet dem Wind seine Breitseite. Trotzdem
    weicht es mehr und mehr ab, und wir gelangen immer
    weiter nach Süden. Daran kann kein Zweifel mehr be-
    stehen, nachdem die ›Chancellor‹ in der Nacht vom 11.
    zum 12. in die große Sargasso-See gelangt ist.
    Diese Sargasso-See, die der warme Golfstrom an-
    gehäuft hat, ist eine weite Wasserstrecke, bedeckt mit
    Tangpflanzen, welche die Spanier »Sargasso« nennen,
    und über welche die Schiffe des Kolumbus bei ihrer ers-
    ten Fahrt über den Ozean nur sehr schwer hinwegka-
    men.
    Bei Tagesanbruch bietet uns das Meer einen ganz
    eigentümlichen Anblick, der auch die Herren Letour-
    neur veranlaßt, trotz des brausenden Windes, der auf
    den metallenen Strickleitern spielt, als wären es Har-
    fensaiten, auf Deck zu kommen. Unsere Kleider sind
    fest und eng an den Körper gebunden, und würden
    zerrissen werden, wenn sie der Wind irgendwo erfas-
    sen könnte. Das Schiff schwankt auf diesem durch die
    fruchtbaren Fucus-Familien verdeckten Wasser, einer
    weiten Fläche von niederen Gewächsen, durch die sich
    der Kiel wie eine Pflugschar hindurcharbeitet, furcht-
    bar hin und her. Manchmal treibt der Wind lange Fa-
    serschlingen hoch empor, die sich um die Takelage wi-
    ckeln und wie grüne Girlanden von einem Mast zum
    anderen hängen. Einige dieser oft mehrere hundert Fuß
    langen Algen umschlingen die Maste
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