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Die Chancellor

Die Chancellor

Titel: Die Chancellor
Autoren: Jules Verne
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trauriger Tischgenosse, der nichts als sein persönli-
    ches Vergnügen im Auge hat. Fortwährend klappert das
    Metall in seinen Taschen, in denen die Hände unausge-
    setzt herumwühlen. Stolz, aufgeblasen, ein Anbeter sei-
    ner selbst und Verächter aller anderen, trägt er eine af-
    fektierte Teilnahmslosigkeit für alles, was ihn nicht di-
    rekt angeht, zur Schau. Er brüstet sich wie ein Pfau, »er
    riecht sich, er schmeckt sich und kostet sich«, um mit
    den Worten des berühmten Physiognomikers Gratiolet
    zu reden. Er ist ein Dummkopf und ein Egoist dazu. Ich
    begreife nicht, warum er an Bord der ›Chancellor‹ ge-
    gangen ist, da das einfache Kauffahrteischiff ihm den
    Komfort der transatlantischen Dampfer ja doch nicht
    gewähren kann.
    Mrs. Kear ist eine nichtssagende, nachlässig auf-
    tretende Frau, der man die 40 Jahre an den Schläfen
    schon ansieht, geistlos, unbelesen und ohne Unterhal-
    tungsgabe. Sie schaut wohl hinaus, aber sieht nichts; sie
    hört wohl, aber versteht nichts. Ob sie wohl denkt? Ich
    möchte es nicht behaupten.
    Die einzige Beschäftigung dieser Frau besteht darin,
    sich jeden Augenblick von ihrer Gesellschaftsdame, der
    Miss Herbey, einer 20jährigen Engländerin von sanftem
    und einnehmendem Wesen, bedienen zu lassen, einem
    jungen Mädchen, das die wenigen Pfund, die ihr der Öl-
    baron zuwirft, wohl nicht ohne Kränkung annimmt.
    Diese Dame ist sehr hübsch; eine Blondine mit tief-
    — 20 —
    blauen Augen, zeigt sie nicht jenes nichtssagende Ge-
    sicht, dem man bei so vielen Engländerinnen begegnet.
    Gewiß wäre ihr Mund reizend, wenn sie einmal Zeit
    oder Gelegenheit hätte, zu lächeln. Worüber sollte das
    arme Mädchen aber lächeln können, da sie jeden Au-
    genblick den sinnlosen Nörgeleien und lächerlichen
    Launen ihrer Herrin ausgesetzt ist? Doch wenn Miss
    Herbey im Inneren gewiß tief leidet, so verbirgt sie das
    doch und erscheint in ihr Schicksal völlig ergeben.
    William Falsten, ein Ingenieur aus Manchester, ver-
    tritt den vollkommen englischen Typ. Er leitet ein gro-
    ßes Wasserwerk in South Carolina und geht jetzt nach
    Europa, um neue verbesserte Maschinen kennenzuler-
    nen, unter anderem die Zentrifugen der Firma Cail. Ein
    Mann von 45 Jahren, steckt etwas von einem Gelehr-
    ten in ihm, der aber nur an seine Maschinen denkt, den
    Mechanik und Berechnungen von Kopf bis Fuß erfüllen
    und der darüber hinaus für nichts mehr Sinn hat. Wen
    er in seine Unterhaltung verwickelt, der kann unmög-
    lich wieder davon loskommen und bleibt wie von einem
    endlosen Zahnrad darin gefesselt.
    Mr. Ruby endlich repräsentiert den ganz gewöhn-
    lichen Kaufmann ohne Erhabenheit und Originalität.
    Seit 20 Jahren hat dieser Mann nichts getan, als zu kau-
    fen und zu verkaufen, und da er im allgemeinen teu-
    rer verkaufte, als er eingekauft hat, hat er sich ein Ver-
    mögen erworben. Was er damit anfangen soll, weiß er
    — 21 —
    selbst noch nicht. Dieser Ruby, dessen ganze Existenz in
    seinem Kramhandel aufging, denkt nicht und reflektiert
    nicht. Sein Gehirn ist für jeden Eindruck unzugänglich,
    und er rechtfertigt in keiner Weise das Wort Pascals:
    »Der Mensch ist offenbar zum Denken erschaffen, nur
    das macht seine Würde aus, und bildet sein Verdienst.«
    5
    7. Oktober. – Wir haben Charleston vor 10 Tagen verlas-
    sen, und wie mir scheint, gute Fahrt gemacht. Ich plau-
    dere häufig mit dem zweiten Offizier, und es hat sich
    zwischen uns eine gewisse Vertrautheit ausgebildet.
    Heute meldet mir Robert Kurtis, daß wir uns nicht
    mehr weit von den Bermudas-Inseln, d.h. gegenüber
    von Kap Hatteras, befinden. Die Beobachtung hat 32 °
    20 ʹ nördliche Breite und 64 ° 50 ʹ westliche Länge von
    Greenwich ergeben.
    Wir werden die Bermudas, und speziell die Insel St.
    Georg, noch vor Nacht in Sicht bekommen, sagte mir
    der zweite Offizier.
    »Wie«, habe ich ihm geantwortet, »wir steuern auf die
    Bermudas? Ich war der Meinung, daß ein von Charles-
    ton nach Liverpool segelndes Schiff nach Norden hal-
    ten und dem Golfstrom folgen müsse.«
    »Gewiß, Mr. Kazallon«, antwortete Robert Kurtis,
    »gewöhnlich schlägt man diese Richtung ein, es scheint
    — 22 —
    aber, als habe der Kapitän für dieses Mal die Absicht,
    davon abzugehen.«
    »Warum?«
    »Das weiß ich nicht, er hat aber befohlen, nach Osten
    zu steuern, so geht die ›Chancellor‹ nach Osten!«
    »Haben Sie ihm aber nicht gesagt, daß . . .«
    »Ich habe ihm gesagt, daß das nicht der
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