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Die Bücher und das Paradies

Die Bücher und das Paradies

Titel: Die Bücher und das Paradies
Autoren: Umberto Eco
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szenographische, würde ich sagen.
    Die dritte Idee war, daß es in dem Roman um eine
    Gruppe von Personen gehen sollte, die Fälschungen
    fabrizieren. Mit der Semiotik des Falschen und der
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    Fälschung hatte ich mich schon einige Male beschäftigt.8
    Ursprünglich sollten diese Personen Zeitgenossen sein, die
    eine Tageszeitung gründen wollen und in einer Reihe von
    Nullnummern ausprobieren, wie man Sensationsmel-
    dungen »kreieren« kann. Tatsächlich schwebte mir für den
    Roman der Titel Nullnummer vor. Aber auch hier gab es
    etwas, das mich nicht überzeugte, und ich fürchtete, am
    Ende dasselbe Personal wie im Foucaultschen Pendel vor mir zu haben.
    Bis mir schließlich einfiel, was eine der schönsten
    Fälschungen in der ganzen abendländischen Geschichte
    gewesen war, nämlich der Brief des Priesters Johannes.
    Diese Idee weckte eine Reihe von Erinnerungen und
    Lektüreerfahrungen. So hatte ich 1960 für Bompiani die
    italienische Ausgabe des Buches Lands Beyond von
    W. Ley und L. Sprague De Camp betreut.9 Darin gab es
    natürlich auch ein Kapitel über das Reich des Priesters
    Johannes und ein anderes über die verstreuten Stämme
    Israels. Auf den Umschlag hatten wir einen Skiapoden
    gesetzt (einen Stich aus dem 15. Jahrhundert, wenn ich
    mich recht erinnere, mit fingierter Kolorierung au
    pochoir ). Jahre später hatte ich mir eine farbige Karte aus einem zerlegten Ortelius gekauft, die das Reich des
    Priesters Johannes zeigte, und hatte sie mir an die Wand
    meines Arbeitszimmers gehängt. In den achtziger Jahren

    8 Zuerst in dem Kapitel »Nachahmungen und Fälschungen« meines Buches Die Grenzen der Interpretation (Hanser 1992); aber siehe auch die vorstehende Inaugurationsrede über das Falsche, die
    vielleicht, bedenkt man das Datum (1994), die erste Keimzelle von Baudolino darstellt.
    9 Deutsch nicht erschienen, vgl. aber Lyon Sprague De Camp,
    Geheimnisvolle Stätten der Geschichte , Düsseldorf, Econ, 1966
    (A. d. Ü.).
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    hatte ich dann verschiedene Versionen des Briefes
    gelesen. Kurzum, der Priester Johannes war mir nicht aus
    dem Kopf gegangen, und mich reizte der Gedanke, die
    Monster, die sein Reich bevölkerten, sowie die anderen,
    die in den diversen Alexanderromanen, in den Reisen von
    Mandeville und einer Reihe von Bestiarien erwähnt
    werden, als Romanfiguren zum Leben zu erwecken.
    Überdies bot sich damit eine schöne Gelegenheit, in mein
    geliebtes Mittelalter zurückzukehren. Infolgedessen war
    meine wahre Keim-Idee die des Priesters Johannes. Aber
    ich war nicht von ihr ausgegangen, sondern nach einigen
    Umwegen bei ihr angelangt.
    Vielleicht hätte mir das alles noch nicht genügt, wäre der
    Brief nicht – dies ist eine der möglichen Hypothesen über
    seinen Ursprung
    – der Kanzlei des Staufenkaisers
    Friedrich Barbarossa zugeschrieben worden. Dieser
    nämlich war für mich ein weiterer magischer Name, da ich
    aus Alessandria stamme, der Stadt, die eigens gegründet
    worden war, um sich dem Kaiser entgegenzustellen. So
    traf ich eine Reihe fast instinktiver Entscheidungen: einen
    Friedrich Barbarossa jenseits der traditionellen Klischees
    zu zeigen, eher aus der Sicht eines Sohnes als aus der
    seiner Gegner und seiner Höflinge (also weg mit vielen
    Barbarossabildern in unseren Geschichtsbüchern), die
    Anfänge meiner Heimatstadt zu erzählen, mitsamt ihren
    Legenden, zu denen auch die von Gaghaudo und seiner
    Kuh gehört. Jahre zuvor hatte ich einen Essay über die
    Gründung und Geschichte von Alessandria geschrieben
    (betitelt, welch ein Zufall, »Das Wunder von San
    Baudolino«)10, und so kam mir die Idee, die ganze

    10 Ursprünglich für den Sammelband Strutture ed eventi
    dell’economia alessandrina , Alessandria, Cassa di Risparmio, 1981; dann aufgenommen in mein Secondo Diario Minimo ,

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    Geschichte von einem Landsmann erleben zu lassen, der
    wie der Schutzheilige von Alessandria Baudolino heißt,
    ihn zum Sohn des Gagliaudo zu machen und dem Ganzen
    einen pikaresk-populären Tonfall zu geben – also eine Art
    Antistrophe zum Namen der Rose zu schaffen: dort eine
    Geschichte von Gelehrten, die sich gewählt ausdrückten,
    hier eine Geschichte von Bauern und Kriegern, die eher
    ungehobelt sind und fast Dialekt sprechen.
    Aber auch diesmal, wie vorgehen? Sollte ich Baudolino
    im pseudo-piemontesischen Dialekt eines 12. Jahrhunderts
    sprechen lassen, von dem wir nur sehr wenige volks-
    sprachliche Dokumente haben und keines aus dem
    piemontesischen Raum?
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