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Die Braut des Florentiners - TB 2006/2007

Titel: Die Braut des Florentiners - TB 2006/2007
Autoren: Richard Dübell
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vormittäglichen Sonne.
    Sie trafen vor dem umgestürzten Reisewagen zusammen. In Niccolòs Gesicht stritten Triumph darüber, dass seine Warnungen offenbar rechtmäßig gewesen waren, und Bestürzung über ihren Fund. Alle warteten schweigend, eine Hand am Zügel, die andere am Schwertknauf – bis auf Michèle, der seine Armbrust in der Rechten hielt und an seiner Seite herunterhängen ließ, von seinem Körper gedeckt. Er hielt einen Bolzen zwischen Zeige- und Mittelfinger und ließ ihn leise wippen. Lorenzo musterte ihn, und Michèle gab den Blick kurz zurück. Wenn es zu einem Angriff kam, würde Michèle wahrscheinlich nicht bei der Flucht mit den anderen Schritt halten können. Aber er würde mit seiner Armbrust Angreifer um Angreifer fällen, bis diese ihn erreicht hätten – oder bis Lorenzos Trupp in Sicherheit war. Lorenzo wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Wäldchen zu, versuchte das Blattwerk mit den Blicken zu durchdringen, versuchte festzustellen, ob sich etwas bewegte, und wenn, ob der Wind der Verursacher war oder ein Mann im Hinterhalt, der sich eine andere Position suchte. Die Vögel füllten die warme Luft mit Melodien, begleitet von den Grillen im Gras. Vom Wald her ertönte das beständige Sirren der Zikaden, dem nur der leichte Wind den Anschein von an- und abschwellender Lautstärke verlieh. Die Pferde von Lorenzos Trupp stampften, schnaubten oder versuchten, gegen die straffen Zügel anzugehen, um Gras zu rupfen. Die Stille, die sich hinter all diesen Geräuschen über die Szenerie wölbte und die bis zur tiefblauen Kuppel des Spätsommerhimmels hinaufreichte, schien sich langsam um die Männer herum zu drehen, als seien sie der Mittelpunkt eines gigantischen Musikmechanismus, dessen Musik darin bestand, ein vollkommenes Schweigen zu produzieren. Lorenzo lockerte den Sitz seines Schwertes. Er spürte, wie sich Pietro Trovatore und noch ein Mann – Franceschino der Barbier – neben ihn schoben. Das grelle Sirren der Zikaden setzte Lorenzos Schädelknochen in Schwingungen, bis es in seinem Kopf lauter schwirrte als in Wirklichkeit. Er war ziemlich sicher, was das Sirren bedeutete, aber er war auch sicher gewesen, dass eine Verspätung von einem Tag kein Problem darstellte.
    Bei jeder Unternehmung gab es einen Moment der Wahrheit. Bei Geschäftsverhandlungen war es der Moment, in dem man ahnte, die Schliche des Verhandlungspartners durchschaut zu haben, es aber nicht genau wusste – und die Hand des Partners über dem Tisch in der Luft hing, darauf wartend, dass man einschlug. In Liebesdingen war es der Moment, an dem die kühle Schönheit, die die Gattin des Herrn war, einen einlud, zu ihr ins Bett zu kommen – und man sich dagegen oder dafür zu entscheiden hatte, wissend, dass jede Entscheidung einen in Schwierigkeiten bringen würde. Im Augenblick war es der Entschluss, abzusteigen und so zu tun, als seien alle Ankömmlinge völlig sorglos und man biete einem Bogen- oder Armbrustschützen gedankenlos seinen ganzen Körper zur Zielscheibe … und ihn damit herauszufordern, sein Hiersein preiszugeben. Lorenzos Rücken prickelte, während er ein paar lange Momente ohne Deckung herumstiefelte, ohne dass etwas passierte. Dann stieg Pietro ab, nach ihm Franceschino … dann Bernardo und Uberto … Buonarotti, mit dem Gesichtsausdruck äußerster Verdrossenheit … Das Gefühl, als liefe Ungeziefer über Lorenzos Rücken, verging. Dieses Mal hatte er recht gehabt: Wären Männer im Wald im Hinterhalt gelegen, hätten die Zikaden nicht gesungen.
    »Niccolò, Maffeo, reitet einmal um den Treffpunkt herum – vielleicht hat sich jemand retten können und versteckt sich oder liegt verletzt irgendwo unter einem Busch. Versucht festzustellen, wie viele es waren, die den Treck überfallen haben, und wohin ihre Spuren führen.«
    Maffeo zog am Zügel seines Pferdes – er und Niccolò waren die Einzigen, die noch im Sattel saßen –, doch Niccolò rührte sich nicht.
    »Was ist mit dem Wagen?«, fragte er. »Wollen Sie nicht reinschauen, Ghirardi?«
    »Alles zu seiner Zeit.«
    »Ich warte, bis es so weit ist.«
    Lorenzo spürte, wie die anderen darauf warteten, dass er Niccolòs Herausforderung annahm.
    »Meinetwegen«, sagte er stattdessen. »Wir sehen zusammen nach. Steig ab. Maffeo, du und Buonarotti übernehmt die Patrouille.«
    Als hätten sie es vorher miteinander abgestimmt, hatten sie sich dort versammelt, wo die Unterseite des Wagens aufragte. Das Holz war staubig und unbemalt, der Wagen
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