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Die Bibliothek der Schatten Roman

Die Bibliothek der Schatten Roman

Titel: Die Bibliothek der Schatten Roman
Autoren: Mikkel Birkegaard
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Muskeln wie von steigendem Hochwasser verwischt worden und hatte sich auch nicht von seinen Versuchen beeindrucken lassen, diese Entwicklung zu verhindern.
    Als er unter der Dusche stand, klingelte sein Handy. Trotzdem spülte Jon sich in aller Ruhe die Haare aus und vollendete sein Morgenritual, ehe er auf dem Display nachsah, wer angerufen hatte. Es war Muhammed. In seiner Nachricht auf der Mailbox erklärte ihm sein Mandant, er habe seinen fahrbaren Untersatz verkauft und bräuchte eine Mitfahrgelegenheit zum Gericht. Der Anschluss war besetzt, als Jon ihn zurückrief, also begnügte er sich damit, Muhammed die Nachricht zu hinterlassen, dass er unterwegs sei.

    Draußen regnete es. Jon hastete zu seinem Auto, einem metallicgrauen Mercedes SL, und warf seine Aktentasche auf den Beifahrersitz. Durch die nasse Windschutzscheibe schien die Welt sich aufzulösen. Gestalten in bunten Regenkleidern flossen ineinander wie die Fantasiewesen einer Kinderzeichnung. Die Scheibenwischer begannen ihre Arbeit, als er den Motor anließ. Mit dem Wasser verschwanden auch die Fantasiewesen und machten mürrischen Dänen Platz, die durch den Regen eilten oder sich unter schützenden Dachvorsprüngen und Markisen zusammenkauerten.
    Der Verkehr in Richtung Nørrebro floss selbst für dieses Wetter extrem langsam. Jon blickte mehrmals auf die Uhr. Zu spät zu einer Gerichtsverhandlung zu kommen war keine gute Ausgangsbasis, wie gut seine eigenen Karten auch sein mochten. Es war für Jon eine Frage der Ehre, immer pünktlich zu sein. Endlich konnte er vom Åboulevard in die Griffenfeldsgade und von dort in die Stengade einbiegen. Der Betonblock, in dem Muhammed wohnte, war mit roten Ziegeln verkleidet. Jede Wohnung verfügte über einen kleinen Garten oder einen Balkon. Zwischen den Häusern lag ein großer Innenhof mit ausgelaugten Rasenflächen, einem verwitterten Spielplatz und Parkbänken, deren Farbe in Wind und Wetter verblichen war.
    Die Erdgeschosswohnung machte Muhammed zum Besitzer von sechs Quadratmetern Garten, eingefasst von einem anderthalb Meter hohen algengrünen Bretterzaun, der sicher einmal weiß gewesen war. Gäste von Muhammed sollten immer durch den »Park« kommen, wie er den Garten nannte, so dass Jon den Innenhof durchquerte und durch die knirschende Holztür den Garten betrat. Die Rasenfläche des »Parks« war mit leeren Pappschachteln, Milchkartons und Paletten zugemüllt, die nur darauf warteten, dass der Untermieter von Muhammed sich erbot, sie zu entsorgen. Ein Vordach, das sich über die halbe Breite der Wohnung erstreckte, bot Schutz vor

    Regen und diente überdies als Aufbewahrungsort für weitere Kisten, Fässer und eine Palette mit Hundekuchen in 20-Kilo-Säcken.
    Jon klopfte an das Wohnzimmerfenster und brauchte nicht lange zu warten, bis Muhammed in Unterhose, T-Shirt und - das wichtigste Accessoire - seinem Handyheadset auftauchte. Auf seinem T-Shirt stand in fetten Lettern VETTERNWIRT-SCHAFT. Typisch Muhammed. Er liebte es, mit den simpelsten Vorurteilen zu provozieren. Diese Nadelstichoperationen gegen das »Extrablatt-Dänemark«, wie er es nannte, waren fast so eine Art Hobby von ihm. Die Ursache dafür waren weder Wut noch Bitterkeit, wie bei manch anderem Einwanderer, sondern der pure Spaß an der Freude und eine gehörige Portion Selbstironie.
    Die Terrassentür wurde geöffnet, und Muhammed bat Jon lächelnd herein, wobei er sein Telefonat fortsetzte. Soweit Jon das beurteilen konnte, sprach er Türkisch. Den Wohnraum nutzte Muhammed für dreierlei: als Wohnzimmer, Büro und Lagerraum. Manchmal schien dieses Zimmer auch als Sauna genutzt zu werden. Auf jeden Fall war es immer sehr warm, vermutlich damit Muhammed das ganze Jahr über in Shorts und T-Shirt herumlaufen konnte.
    Muhammed war »Wettbewerbsritter«. Die Bezeichnung, die von ihm selbst stammte, verlieh seiner Arbeit unzweifelhaft einen romantischeren Einschlag, als sie es eigentlich verdiente. Als das Internet allgemein Fuß fasste, setzten zahlreiche Firmen auf Preisausschreiben und Lotterien, um Kunden auf ihre Webseiten zu locken, wo sie Produkte, Geld, Reisen und alles Mögliche gewinnen konnten. Auch elektronische Ausgaben von Rubbellosen oder Casinospielen fanden plötzlich regen Zuspruch, und da die meisten dieser Wettbewerbe nicht vorschrieben, wo auf der Welt die Mitspieler sich aufhalten, eröffnete sich dort eine stetig wachsende Zahl von Möglichkeiten.

    Muhammed lebte davon - manchmal sogar im wahrsten Sinne des
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