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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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es womöglich nicht nur an dem Problem der schriftlichen Ingangsetzung oder Weiterführung, sondern an barem Stoffmangel liegen könnte, einfach darum, weil ich nichts unter den Zähnen, nichts im Beutel, nichts zu schreiben habe. Mal sehen, Spinnenängste, Schreibpanik und Alter und Tod. Und Odiles nicht gerade aufheiternde Telefonate, weil
sie einmal mehr in den schwärzesten Launen und Gedanken steckt und mich lähmt.
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    Klassenzusammenkunft, Matura 1949, Greisenasyl – mit Ausnahme von Fritz Thormann, der heute noch per Rad von Bern nach Paris fährt, Glatzkopf mit riesigem abstehenden Schnurrbart, einer der beiden Aristokraten in unserer Klasse. Mit ihm hatte ich in der Schulzeit wenig zu tun, wohl aber mit Hohl, dem späteren Botschafter, den ich vor seinem Tod in seiner Villa neben Athen, wo sein letzter Botschafterposten war, besucht habe.
    Wir waren wie Milchbrüder, ganz eng, beide heirateten wir früh, beide tranken wir gerne und viel, nach einer zusammen durchzechten Nacht glich der Tisch einem Wald voller leerer Flaschen, sage ich.
    Einmal hatte ich eine Lesung in Bern, Untertauchen , muß also 1972 gewesen sein, und entdecke im Saal den lange nicht gesehenen Freund Hohl neben einer auffallenden Eurasierin, Tochter eines Botschafters aus Bangladesch, Mutter Engländerin, wie ich später erfahre. Hohl zur Botschafterkonferenz im Auswärtigen Amt, darum Bern, er hat per Zufall von meiner Lesung erfahren, und nun sitzt er also da im Saal, und hinterher gehen wir zu dritt trinken und landen im Hotelzimmer von A., so heißt die junge Dame, wo wir weitertrinken und wo Hohl sich anschickt aufzubrechen, und ich ihm nach. Nein, meint er, bleib noch, ich mache mich auf den Weg. Und er haut ab. Er muß mich als Stellvertreter vorgesehen haben, denke ich später, als ich deren komplizierte Geschichte erfahre.
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    Ich habe eine geradezu abergläubische Furcht, mein Manuskript mit dem Nagel im Kopf aus der Versenkung zu heben
und mir vor Augen zu legen; wie ich Angst habe, in die Arbeitsmansarde zu gehen, die meiner wartet und harrt und nur Miete kostet.
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    Eben zurück vom Schreibmaschinenmechaniker, die Maschine ist repariert und läuft – wie der Mechaniker sagt – wie geschmiert oder wie ein Computer. Außerdem habe ich die Mansarde gekündigt, ich bin ja nie hingegangen.
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    Was ich neulich gedacht habe: Das Laboratorium des Vaters hat mir nicht nur als väterliche Braustube oder einfach geheimnisvolle Arbeitsstätte gefallen oder mich beeindruckt, es mag sein, daß mir auch das Wissenschaftliche der Arbeit etwas bedeutet hat, also das vage Experimentelle, das Nebeneinander von köchelnden Essenzen auf Bunsenbrennern, die Säcke mit Pulvern, das Aromatische in der Luft, die Gestelle mit Reagenzgläsern und dann die Notizen auf dem Schreibtisch, der Schreibtisch samt Telefon. Und irgendwie wußte ich ja, daß das Ganze mit Heilkräften zu tun hatte, also mit Medikamenten letztendlich. Nun, das Wissenschaftliche gehörte zum Chemiker und das Gedankenprogramm vage zum Philosophischen, wohinein auch die Naturheilkunde gehörte, eine Lebensanschauung. Ich sage das, weil auch in mir etwas von Wissenschaftlichkeit (Naturwissenschaft) stecken mag und überdies eine heilsame Hand manchmal sich regen möchte, wenigstens ein dahingehendes Interesse vorhanden ist. Und somit hätte das väterliche Vorbild, wie wenig davon auch bewußt ist und benennbar wäre, eine Spur hinterlassen.
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    Mit Enkeltochter Xenia – wunderbare gemeinsame Tage – und Igor in der Ausstellung Lucian Freud im Beaubourg gewesen. Natürlich ist man schockiert von dieser Ausbreitung von großformatigen Akten von vorwiegend alten bis difformen Körpern, Nackedeien der Häßlichkeit, die nackte Wahrheit fürwahr, sagt sich der Besucher, wie kommt der Maler nur zu dieser Thematik und Ausschließlichkeit? Vielfach sind es Selbstdarstellungen, der Maler alt, an die 90, würde ich denken; und was ebenso erstaunlich ist, scheint der Erfolg, die höchsten Preise, das höchste Ansehen. Und das in einer Zeit, wo das Körperideal überirdisch geschönt und geliftet und rank und schlank und ohne Makel ist – soweit die Gazetten, die Werbung, die Mode es zeigen und befehlen. Freuds Farbigkeit ist fahle Fleischfarbe, die Körperlichkeit faltig und wulstig und ohne Scham
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