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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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eine Tragbahre geschnallt die Treppen hinuntergetragen und mit der Ambulanz ins Irrenhaus oder eine Klinik verbracht. Und Lenas Mutter hat gleich danach das Haus, das ganze große Mietshaus, verkauft. Und hat nie wieder von sich hören lassen. Und von Schwermut vorübergehend heimgesucht schien mir die alte Dame Mima Dohrn auf Ischia, sie schloß sich auch in ihr Zimmer ein, verkroch sich gewissermaßen ins Dunkle, bis ich sie mit List und Tücke dazu überreden konnte, mich auf einen Spaziergang zu begleiten, was ihr anscheinend aufhalf und aus der inneren Dunkelhaft befreite. Ich war 20, und sie eine Flüchtlingsfrau aus Pommern oder Schlesien, Gutsbesitzersgattin. Ich komme auf die Schwermut zu sprechen, als wäre sie das mir Vertrauteste von der Welt, heute gebraucht man das Wort nicht mehr, man hat es durch Depression ersetzt. Ich meine Odiles für depressive Anwandlungen oder Zustände empfindliche Person, sie stürzt ja immer von neuem ab, es hat mit Unerfülltsein, mit Einsamkeit, tiefem Entbehren und daraus hervorgehender Mutlosigkeit manchmal bis zur Erschöpfung zu tun. Woher das
Glück nehmen. Früher dachte ich an Schwermut wie an eine Frauenkrankheit unter vielen anderen.
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    Brigitte kannte auch Schwermutszustände, will mir scheinen. Wie pubertierende Mädchen. Ich frage mich, woher mir die genannte Geistesverfassung so vertraut ist. Ich bin ja nie mutlos. Oder wäre ich jemand, der beim andern, beim Nächsten, Schwermutsanfälle auslösen kann, dachte ich auch schon.
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    Gestern mit Piller in Auvers-sur-Oise gewesen, vor den Gräbern von Vincent und Theo van Gogh gestanden, der Friedhof auf einer Anhöhe, die Gräber die einzigen mit kleinem Kreuz, einzigen schönen, das Beet efeuüberwachsen, davor gestanden, den Kopf im novemberlichen Nieseln, so spät im Leben endlich dem Mann, der mich entzündet hat und auf meine Lebensreise schickte, die Ehre erwiesen. Sah alles mit van-Gogh-Augen, die Felder, die Kirche in den verzogenen Konturen, die den Bau zwar genau wiedergeben, einfangen, jedoch gleichzeitig auf intim anrührende Weise verinbildlichen; das beflaggte Bürgermeisterhaus. Übrigens ist in der Nähe ein Denkmal und das Museum Daubigny. Gehört diese Wallfahrt auch zu den Quellenbesuchen dieses Jahres, angefangen mit Riga, fortgesetzt mit Rom (Schweizer Institut) und eben jetzt München, Universität, wo ich 1952 studierte? Ja, ich bin eben erst aus München zurück, habe den Vortrag, den ich in der Nacht vor der Abreise fertiggestellt, gehalten. Sonst geschah ja nicht eben viel in diesem Jahr, immerhin: ein Statement zu Friedrich Kuhn für den Katalog, auch er gehört zu den Quellen und wird kommenden Monat im Zürcher Kunsthaus wie durch ein Wunder Auferstehung feiern.
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    Seit Freiburg mit Marie-Luise Scherer in Kontakt. Habe gleich ihr hinter allerlei Konfusion und Unabhängigkeitsbenehmen verstecktes Persönlichkeitsformat entdeckt. Und jetzt beim Anlesen die schriftstellerische Klasse. Wahre Geschichten aus dem Alltag, als poetische (Riesen-)Reportagen im Spiegel , dann in Enzensbergers Reihe »Die andere Bibliothek« bei Eichborn erschienen. Lebt angeblich allein mit ihrem Hund auf dem Lande, in einem Weiler namens Damnatz, die nächste Stadt Lüneburg oder Celle, kenne ich. Sie stammt aus Saarbrücken.
    Jetzt nur soviel: Reportagen in dem Sinne, als alles bis auf die Namen, Straßen, Begebenheiten aufs genaueste benannt und also wohl recherchiert ist (Detektivarbeit, würde man denken) und mit einem unwahrscheinlichen Sprachgebiß nicht nur gepackt, sondern vorgeführt, hinreißend hingestellt ist. Der Blickwinkel so unerbittlich, daß er in Liebe umschlägt. Woher die sonst nirgendwo gelesene intime Kenntnis der Dinge, woher nimmt sie sie nur. Ich kenne Vergleichbares nur bei Koestler? nein, Orwell? Truman Capote (Stories und Porträts).
    Das Bindeglied zu mir ist die verehrte Größe Alltag . Und die Non-Fiction, die aber kraft der Sprache ins Legendäre oder mehr: Dichtung? schillert und überwechselt. So nah am Äußeren und Äußersten, daß es in Wahrheit (?) explodiert und dennoch lebensrätselhaft bleibt. Irgendwo ist im Programm etwas Verwandtschaftliches.
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    Montag und Schnee vor dem Haus. Samstag spät von Rom zurückgekehrt – eine Woche zusammen mit Skwara im Schweizer Institut logiert (und viel
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