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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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und nenne es seit meinem eben beendeten Morgenspaziergang Der Nagel im Kopf , weiß nicht wieso. Ich hatte, immer von dem Projekt Salve Maria ausgehend, an einen Anfang mit meiner Italienreise gedacht, an die nächtliche Ausfahrt, um das Ich nach Italien zu befördern, doch das alles ergab nichts oder ödete mich an. Und so dachte ich an Personalien und daß ich sie nicht mag oder daß der Schreiber sie nicht zu mögen vorgibt, der Gedanke, der Satz war aus der Luft gegriffen, und dann ging der Satz im Selbstgesprächston seiner Wege und wuchs sich zu über zwei Seiten aus, und ich dachte, jetzt habe ich das Buch angefangen, ob es der Monologton von der Forelle ist, stehe dahin, ein Ton ist es. Und die Erzählweise vagabundierend, aber auch vernagelt oder eigensinnig, ich finde das Wort nicht, egal. In dieser vagabundierenden Kopfreise kann ich einfach alles unterbringen und einfangen, das Nächste und Fernste, sogar Maria. Habe den Anfangssatz gestern Martin Dean und Silvia vorgelesen, und er passierte die Zollgrenze, und spät nachts las ich den ganzen Anfang Odile vor, die an dem Ganzen ihre Freude hatte oder zu haben vorgab. Und sollte ich wirklich mit dem neuen Buch angefangen haben, so bin ich gerettet, weil ich meine Arbeit habe, mich von dem Text führen und verführen lassen kann, nimm mich an die Hand. Und der Rest ist Schweigen. Jetzt wird es sein wie beim Schreiben der Forelle , der Text schwänzelt aus der Tastatur der uralten Maschine, und ich lasse mich überraschen, jeden Tag ein Stückchen weiter, mal sehen, wohin das führt. Wenn nur der Nagel im Kopf hält und nicht nachgibt.
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    Nächte von unstillbarem Lesehunger durchflackert. Die wunderbare Person, die überwältigende Menschlichkeit und Gerechtigkeit Tschechows. Das Wüten meiner Schwester
am Telephon, zwischen den grundlosen Wutanfällen gegen wen auch immer nicht nur helle, sondern wissende und packende und darum ermutigende Bemerkungen über Musik und das Handwerk des Klavierspielens und ihre Kunsttrunkenheit. Vitalität kann man ihr nicht absprechen, weiß Gott.
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    Man sitzt ja im Käfig der eigenen Einbildung, ich meine Selbstbildnis, man schaut ja nicht in den Spiegel, sieht nicht die altgewordene Ausgabe seiner selbst, wie alt ist das Selbstgewissen, ich meine das Bild von sich, das man herumträgt, etwa in der Metro, so wie heute auf der Linie Porte de la Chapelle, unterwegs zur Bank, um eine Überweisung ins Ausland zu veranlassen, Schuldenzurückzahlung; und wer ist der, der dem gegenübersitzenden Mädchen, jungen Frau zuschaut, die jenen Liebreiz atmet, der nur jungen, noch unverletzten, hochgemuten, selbstgewissen Frauen eigen ist; alles war Anmut an ihr; ich las die Haltung des schönen Gesichts, den Mund, die bewimperten Augen, den Blick, ich spürte das Wesen auf, das sorglos selbstgewisse, ich konnte nicht anders, ich lächelte sie an (da sie ja merkte, wie ich in ihr las), und sie lächelte zurück, nein, das Zurücklächeln entschlüpfte ihr gewissermaßen, nur für einen flüchtigen Augenblick, bevor sie sich wieder zusammenfaßte, ich vertiefte mich wieder in die Zeitung und dachte, Mensch Mann, so alt und lächelst einer Unbekannten zu in der Metro, und als sie aufstand, sah ich das ganze Persönchen, wunderbar die Silhouette, ein Traum von einem Anblick, und wie sie entschwand, an der Station Madeleine, ob sie da wohnt? möglich, sie paßt jedenfalls da hin, dachte ich noch und spurte meine Gedanken auf das Bankgespräch ein.
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    Schwermut. Nein, meine Mutter war eher eine Frohnatur, wenn ich mich auch daran erinnere, daß sie uns Kindern gegenüber damit gedroht hatte, in den dunklen Wald zu gehen und nicht wiederzukommen, falls wir nicht gehorchten oder was immer taten oder unterließen: was mich vermutlich tief erschreckte, sonst erinnerte ich mich ja nicht daran. Schwermütig war die schöne Lena, wie sie in meinem Haus -Buch heißt, die Hausbesitzers- und Juweliers-Witwentochter, die sich tagelang in ihr verdunkeltes Zimmer einschloß und mit einer unnatürlich und widerlich piepsigen Stimme antwortete, wenn ihre verschüchterte und bald einmal versteinte Mutter anklopfte; und ich erinnere mich, daß diese dabei wie von einem Schlag ins Gesicht zurückwich. Man hat die schöne, die in normalen Phasen wohlriechende, berückende Schönheit ja dann eines Tages auf
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