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Die Bekenntnisse der Sullivan-Schwestern

Die Bekenntnisse der Sullivan-Schwestern

Titel: Die Bekenntnisse der Sullivan-Schwestern
Autoren: Natalie Standiford
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fragte ich. Eigentlich hat man von hier oben einen guten Überblick. Doch im Sommer, wenn die Blätter so dicht sind, dass man das Gefühl hat, in einem Baumhaus zu sein, erkennt man vom Turmzimmer aus kaum etwas. Im Winter, wenn die Bäume kahl sind, kann man die Nachbarhäuser und die Lichter der Innenstadt sehen.
    Jane drehte sich vom Fenster weg und blies mir Rauch ins Gesicht. »Du siehst anders aus.«
    »Wie ›anders‹?«, fragte ich.
    Sie zuckte die Achseln und zog noch einmal an ihrer Zigarette. »Ich weiß nicht. Anders eben.«
    »Ich bin ein anderer Mensch«, erwiderte ich. »Ich glaube, ich werde nie wieder die alte Norrie sein.«
    Sie verzog keine Miene; wie Du ja weißt, Almighty, lieben wir Sullivans das Drama. Allen voran: Du. Und der Striptease, den Jane letztes Jahr mitten während des Schulmusicals hinlegte, oder der Auftritt, mit dem St. John eines Morgens ankündigte, nach Paris abzureisen – für immer –, sind auch schwer zu überbieten. Wusstest Du davon? Daddy-o hatte Schiss, Dir zu erzählen, dass sein zwölfjähriger Sohn alleine nach Paris abgehauen war, schließlich wirfst Du ihm ja ständig vor, er sei zu nachgiebig mit uns. Nach einer Woche hatten sich die Wogen geglättet. Ein Freund von Daddy-o hatte St. John in Paris am Flughafen abgeholt, und nachdem er eine Woche in Cafés und Museen verbracht hatte, flog mein Bruder nach Hause zurück und erklärte allen, Paris sei ganz nett, aber überbewertet.
    Insoweit konnte die Mitteilung, ich fühlte mich plötzlich »anders«, keinen großen Eindruck schinden. Janes einziger Kommentar lautete: »Ich wusste gar nicht, dass Schnelllesen jemanden so verändern kann. Und noch dazu in so kurzer Zeit! Wird die neue Norrie das Zimmer mit mir tauschen, damit ich endlich rauchen kann, wann ich will?«
    »Nein«, erklärte ich. »Es wird nie eine Inkarnation von Norrie geben, die das Turmzimmer aufgibt, bevor sie aufs College geht. Und du sollst sowieso nicht rauchen.«
    »Ich weiß.« Sie blies Rauch aus dem Fenster.
    Ich habe Jane nichts von dem Typen erzählt, den ich an diesem Abend im Schnelllesekurs kennengelernt hatte, denn es war noch zu früh. Ich wollte der Sache, wie immer sie sich entwickeln würde, die Chance geben, überhaupt erst mal zu passieren. Außerdem, sobald ich jemandem davon erzählte, wäre es wirklich, und für die Wirklichkeit war ich noch nicht bereit. Mir war klar, dass mit wirklich jede Menge Scherereien verbunden waren.

Zwei
    Das war zu Beginn des Schuljahres, als ich glaubte, ich wäre noch immer ein bisschen in Brooks verknallt, und als der Herbst vor mir lag wie eine kurze ruhige Straße zum Cotillon – dem Ball, bei dem die Debütantinnen der feinen Gesellschaft Baltimores vorgestellt werden. Robbie war zu diesem Zeitpunkt ein grobes Sandkorn, das unter meine Muschelschale gerutscht war. Ein Reizkörper.
    An jenem Samstag fand eine Party statt, die letzte Sommerparty des Jahres; auf Matt Bowies Farm in Stevenson. Matt Bowie veranstaltet alle großen Partys: im Sommer Partys am See mit Livebands auf den Ländereien hinter dem Haus seiner Großmutter; im Herbst Apfelerntepartys auf den Wiesen; im Winter Eislaufpartys auf dem Teich, mit Lagerfeuern und heißer Schokolade mit Schuss; im Frühling Picknicks zum Hunt Cup , bei denen wir auf dem Hügel sitzen und den Pferden zusehen, wie sie auf den Feldern seiner Familie die Hindernisse nehmen. Du hast möglicherweise einmal auf genau dem gleichen Hügel gesessen, Almighty, und zusammen mit Matt Bowies Großmutter die Reiter beobachtet. Vielleicht warst Du ja auch bei einer ihrer Weihnachtsfeiern in dem großen Haus mit dem vergitterten Aufzug und den Kränzen, die an jeder Tür hängen.
    Sassy, Jane und ich trugen Badeanzüge unter unseren Shorts. Wir warfen uns Handtücher über die Schulter und stiegen in St. Johns alten himmelblauen Mercedes, den er in der Garage hatte stehenlassen, als er nach New York gezogen war. Er hatte ihn von Daddy-o geerbt, als der sich den neuen cremefarbenen Mercedes gönnte, aber mittlerweile gehört er wahrscheinlich mir.
    Der Tag war warm und die Luft voller Blütenstaub. Ich kurbelte die Fenster herunter und fuhr barfuß die Charles Street in nördlicher Richtung entlang. Unterwegs hielten wir in Homeland, um Claire abzuholen. Sie setzte sich auf den Vordersitz neben mich und stemmte die Füße auf das Armaturenbrett. Jane bestand darauf, dass wir in Ruxton anhielten, um ihre nervige Freundin Bridget abzuholen, also legten wir
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