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Die Begnadigung

Titel: Die Begnadigung
Autoren: John Grisham
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ihren guten Namen von jeglichem Makel zu reinigen und ihre innig geliebten staatsbürgerlichen Rechte wieder zuerkannt zu bekommen. Alle behaupteten, sie wären Freunde oder Freunde von Freunden oder besonders fanatische Anhänger. Nun war es fünf Minuten vor zwölf, doch bisher hatten nur wenige von ihnen Gelegenheit gefunden, ihre Unterstützung auch öffentlich zu bekunden. Es war schon deprimierend. Nach vier turbulenten Jahren, in denen Morgan der wichtigste Politiker der freien Welt gewesen war, schrumpfte alles auf einen erbärmlichen Stapel Papiere zusammen – auf die Gnadengesuche eines Haufens von Gaunern. Welchen Dieben sollte man Gelegenheit geben, erneut zu stehlen? Das waren die weltbewegenden Fragen, die Morgan in den letzten Stunden seiner Amtszeit beschäftigten.
    Der letzte Getreue, ein alter Kumpel aus der Studentenverbindung, hieß Critz. Während ihrer gemeinsamen Zeit an der Cornell-Universität war Morgan Vorsitzender der Studentenvertretung geworden, weil Critz die Wahlurnen mit gefälschten Stimmzetteln voll gestopft hatte. In den vergangenen vier Jahren hatte Critz mehrere Posten bekleidet. Er war Pressesekretär, Stabschef, nationaler Sicherheitsberater und schließlich sogar Außenminister gewesen – Letzteres allerdings nur für drei Monate, weil er durch seine eigenwillige Vorstellung von Diplomatie fast den Dritten Weltkrieg ausgelöst hätte und schleunigst abberufen werden musste. Seinen letzten Job hatte er im vergangenen Oktober übernommen, in der hektischen Schlussphase des Wahlkampfs, von dem Morgan sich die Bestätigung im Amt versprochen hatte. Als die Meinungsumfragen zeigten, dass der Präsident in mindestens vierzig Bundesstaaten weit abgeschlagen hinter seinem Konkurrenten lag, hatte Critz die Wahlkampfleitung an sich gerissen. Er hatte es geschafft, mit Ausnahme von Alaska auch noch den Rest des Landes zu vergraulen.
    Es war eine historische Wahl gewesen. Nie zuvor hatte ein amtierender Präsident so wenige Wahlmännerstimmen erhalten – ganze drei, um genau zu sein. Sie kamen aus Alaska, dem einzigen Bundesstaat, dem Morgan auf Critz’ Anraten keinen persönlichen Besuch abgestattet hatte. Fünfhundertfünfunddreißig Stimmen für den Herausforderer, drei für den Amtsinhaber. Das Wort »Erdrutschsieg« charakterisierte das Ausmaß des Debakels nicht einmal ansatzweise.
    Als die Stimmen ausgezählt waren, folgte der Herausforderer zweifelhaften Ratschlägen und beschloss, das Ergebnis aus Alaska anzufechten. Warum nicht alle fünfhundertachtunddreißig Wahlmännerstimmen einsacken?, hatte er sich gefragt. Nie wieder würde ein Präsidentschaftskandidat die Chance bekommen, seinen Gegner zu null zu schlagen, ihm die ultimative Niederlage zuzufügen. Sechs Wochen lang wurde in Alaska erbittert prozessiert, und der Präsident musste noch mehr leiden. Als der Oberste Gerichtshof ihm die drei Wahlmännerstimmen des Bundesstaates schließlich offiziell zuerkannte, köpften er und Critz in aller Stille eine Flasche Champagner.
    Obwohl ihm das amtliche Endergebnis nur eine hauchdünne Mehrheit von siebzehn Stimmen attestierte, war Präsident Morgan seitdem geradezu vernarrt in Alaska.
    Er hätte mehr Bundesstaaten keinen Besuch abstatten sollen.
    Selbst in seiner Heimat Delaware, wo ihm das einst so weise Stimmvolk acht wundervolle Jahre als Gouverneur beschert hatte, war er als Verlierer aus der Wahl hervorgegangen. So wie Morgan Alaska ignoriert hatte, ignorierte sein Gegner Delaware – keine erwähnenswerte Kampagne, keine Fernsehspots, nicht eine einzige Rede. Und trotzdem hatte er zweiundfünfzig Prozent der Stimmen eingefahren!
    Critz saß in einem weich gepolsterten Ledersessel, bewaffnet mit einem Notizblock mit einer langen Namensliste, die abgearbeitet werden musste. Er schaute zu, wie der deprimierte und gedemütigte Präsident langsam von einem Fenster zum anderen wanderte, in die Finsternis spähte und darüber sinnierte, was aus seiner Amtszeit hätte werden können. Morgan war achtundfünfzig, hatte sein Leben aber schon hinter sich – seine Karriere war beendet, seine Ehe zerrüttet. Mrs Morgan war bereits nach Wilmington zurückgekehrt und amüsierte sich öffentlich über Morgans Idee, in ein Holzhaus in Alaska zu ziehen. Insgeheim bezweifelte Critz, dass es seinem Freund gefallen würde, sich für den Rest seiner Tage als Jäger und Angler zu betätigen, aber die Aussicht, Mrs Morgan dreitausend Kilometer entfernt zu wissen, musste sehr verlockend sein.
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