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Die Aspern-Schriften (German Edition)

Die Aspern-Schriften (German Edition)

Titel: Die Aspern-Schriften (German Edition)
Autoren: Henry James
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aller Welt vergessen mit ihrer Nichte in Florenz, wo ein glühender Shelley-Verehrer namens Silsbee sich als Untermieter Zugang zur ehemaligen Entourage seines Idols verschaffte, um an dessen literarische Hinterlassenschaften zu gelangen. Nach dem Tod der Tante bot ihm die Nichte die Papiere zu demselben Preis wie Miss Tina in der Erzählung an, woraufhin er die Flucht ergriff. Natürlich hat James die Geschichte auf seine Weise erzählt, sie an einen anderen Schauplatz verlegt und seine Figuren als mixta composita aus mehreren gestaltet, wie es sich für einen Dichter gehört. Grund zu Spekulationen, wer sich alles in ihnen verberge. Dass mit Aspern der englische Dichter der Hochromantik Percy B. Shelley (1792 – 1822) gemeint sei, findet ebenso plausible Begründungen wie eine Identifikation mit dem ebenfalls romantischen Dichter Lord Byron (1788 – 1824). Der eine starb in Italien, der andere in Griechenland, beide im selbstgewählten Exil wie Aspern. James hat Shelley hoch geschätzt und ihn einen »göttlichen Dichter« genannt, wie er Aspern einen Gott nennt, während er den stets ironischen Byron als leidenschaftlichen Geist glühend verehrte und Aspern dessen dandyhafte Züge verlieh. Seine belustigten Augen blicken wissend, Byrons erfrischenden Sarkasmus verratend, aus dem Porträt auf den gepeinigten Helden. Die intendierte Offenheit des Wer-bin-ich-Spiels findet darin ihre Spiegelung, dass die alte Dame den Namen ihres früheren Liebhabers nicht ein einziges Mal über ihre Lippen lässt. Der Erzähler hingegen, immer für eine Hinterhältigkeit gut, führt den Leser in ein Labyrinth von zweifelhaften Ahnungen, solcherart, dass sich die Geliebte in jungen Jahren einem für ihre Zeit allzu freizügigen Liebesleben hingegeben habe. Andeutungen natürlich nur. Shelley aber war es, der gesellschaftliche Konventionen und Moralvorstellungen durchbrach, den Ehestand in Frage stellte, sich hymnisch zur freien Liebe bekannte und die ideale Schönheit der weiblichen Seele feierte; zugleich stellte er den Dichter als den stets getriebenen, seiner Heimat entfremdeten und ewig auf der Wanderschaft befindlichen Geist dar. Motive, die dem steinernen Zölibatär und freiwillig Expatriierten James lebenslang Grund gaben, seine literarischen Metaphernfelder zu beackern. Hier konnte er nun, da er seinen Shelley-Byronschen Aspern wie auch die Geliebte Clairmont-Bordereau zu Amerikanern machte, eine Variation seines wichtigsten kulturkritischen Themas zum Klingen bringen, den lebensweltlichen wie auch seelisch-geistigen Unterschied und die kulturelle Unvereinbarkeit des alten und des neuen Kontinents.
    Eine der abenteuerlichsten und interessantesten Mutmaßungen im allzu beliebten Who is Who spielt damit, dass sich in Aspern die Initialen ASP und damit der russische Dichter Alexander S. Puschkin verberge, dessen berühmte Erzählung Pique-Dame , 1834 erschienen, James als Inspirationsquelle gedient haben könnte. Nicht von der Hand zu weisen, denn die Ähnlichkeiten in der Geschichte sind zahlreich, aber die Unterschiede ebenso, und das Geheimnis schreit nach Ergründung. Ehe ich mich aber in Spekulationen verliere und meinen Lesern Verstrickungen in Beweisketten aus fremden literarischen Gefilden zumute, biete ich Ihnen meinen Hinweis lieber als Anregung dafür, sich die mysteriöse Puschkin-Erzählung Pique-Dame noch einmal zur Lektüre vorzunehmen.
    Für die Aufhellung der dunkel gestimmten Erzählung trägt die Wiedererkenntnis alles und nichts bei. James selbst hat einmal gesagt, er habe jenen Captain Silsbee zwar ein wenig gekannt, aber es gebe nicht den geringsten Widerschein seiner Person in den Aspern-Schriften , auch sei er froh, Claire Clairmont und ihre Nichte nicht mehr kennengelernt zu haben. Er darf seine Figuren nach seinem Belieben gestalten, und das geht in eine ebenso sinnenferne wie theatralische Richtung, schließlich habe er die Essenz dessen genommen, was er einmal »die letzte Szene in dem reichlich düsteren Shelley-Drama, das sich in dem Theater unserer heutigen ›Modernität‹ abgespielt hat« nannte, und so darf man mit Fug und Recht Aspern als die Figura composita eines amerikanischen Byron-Shelley mit Puschkinschen Zügen ansehen.
    Dieses Ideal eines Dichters und Ideal einer fiktiven Figur, diese Sehnsuchtsmetapher in einem ungelebten Leben und Sehnsuchtsfigur zart angedeuteter homoerotischer Phantasien – wenn der Erzähler sich vorstellt, Julianas Hand berühren zu dürfen, die einmal von
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