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Die Aspern-Schriften (German Edition)

Die Aspern-Schriften (German Edition)

Titel: Die Aspern-Schriften (German Edition)
Autoren: Henry James
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dadurch einer lästigen vierten Person, die der Verstrickung unliebsame Komponenten hätte hinzufügen können. Durch plausible Abwesenheit kann Mrs. Prest nicht weiter ins Geschehen eingreifen. Der Schachzug ist dramaturgisch umso geschickter, als der Erzähler mit ihrer freundschaftlichen Zuwendung ebenso unzufrieden wie sie über sein ständiges Nörgeln genervt ist. Man ahnt die leichte Spannung, die zwischen ihnen herrscht, muss sie aber nicht miterleben. So bleibt die Intimität des Kammerspiels gewahrt. Erst im Epilog findet Mrs. Prest noch einmal eine etwas frostige Erwähnung, Beweis für die in Mitleidenschaft gezogene Freundschaft. Und die tiefere Ursache dafü r ? Weil sie sich als Kronzeugin der Intrige unbeliebt gemacht hat, nach der Devise: Der Überbringer der schlechten Nachricht ist schuld an der schlechten Nachricht.
    Im Gegensatz zu Mrs. Prest verlassen wir Leser den Schauplatz Venedig nie, da wir niemanden auf seinen Reisen begleiten, auch den Erzähler nicht, als er ein paar Tage ins Veneto fährt. Nur in der Rückschau erwähnt er, wo überall er gewesen sei, da er aber in seinem verwirrten Zustand nach der Katastrophe die Außenwelt nicht wirklich wahrgenommen hat, weiß er nicht zu berichten, was er gesehen hat. So bleibt die Lagunenstadt das Bühnenbild für alle drei Akte. Vor dieser Kulisse, in einem entlegenen Winkel, steht ein maroder Palazzo am Rande eines Kanals. James entwirft eine Theatersituation: Die Zuschauer im Parkett haben die Bühne vor Augen, von unten schauen sie als Gondelpassagiere aufs Ufer hinauf und sehen auf den Pfaden und Brücken Beine laufen, dort bewegt sich eine amorphe Menschenmasse vor den Fassaden mit dem bröckelnden Putz und der abblätternden Farbe. Dieses Bühnenbild ist von Canaletto gemalt, der auch für die Lichtdramaturgie sorgt. Er legt das Licht der Nachmittags- und Abendsonne über die Stadt, das noch aus dem verfallendsten Palazzo ein Schmuckstück macht. Venedig wird nicht als reale Stadt lebendig, es bleibt eine kühle Kulisse in einem eiskalten Spiel. An einer einzigen Stelle darf Venedig leuchten, als der Erzähler Miss Tina zum Markusplatz ausführt. Für den Leser gerät die Gondelfahrt jedoch nicht zur Sightseeing-Tour, denn was er ihr zeigt, verrät er nur ihr. Wie eine Weltreise mutet das Dahingleiten durch die Kanäle an, so groß wird für Miss Tina der Abstand von der Düsternis des Palazzos, in dem die Alte Lähmung verbreitet, und sie gewinnt zunehmend Leichtigkeit. Es werden die schönsten Hoffnungen geschürt. Sollte der Markusplatz mit dem Café Florian zum romantischen Ort werde n ? Ausgerechnet der am meisten bevölkerte und entfremdete Platz in Venedig, an dem garantiert kein intimer Moment möglich ist? James hat Vorsorge getroffen. Heerscharen von Touristen leisten ihm Beistand bei der Wahrung des Anstands. Im Text kommt niemals auch nur ein erotisches Flirren auf, als sei die Idee von Erotik noch nicht oder nicht mehr in dieser Welt.
    Also bleibt Venedig auch hier Kulisse. An keiner Stelle wird eine Topographie der Stadt so vor Augen geführt, dass man einen Weg im Geiste nachgehen könnte, selbst der Erzähler verläuft sich. Auch der Lido wird zum Unort, zur Stimmungslandschaft, die den verzweifelten Helden nicht freundlich aufnimmt, sondern nur auf einer unwirtlichen Oberfläche herumwandeln lässt. Vom Lido hätten wir eigentlich eine idyllischere Vorstellung gehabt.
    Vorläufiges Fazit dieser Betrachtungen: James hat eine literarische Technik von höchster Kunstfertigkeit entwickelt, die man indirekt nennen muss. Metaphern, uneigentliche Rede in Bildern, tragen ebenso zur Indirektheit bei wie die Übertragung der erzählerischen Verantwortung auf den Protagonisten, der uns Lesern das Geschehen stets kommentierend vermittelt, uns etwas vorgaukelt, vielleicht sogar lügt. Wer weiss, ob aus Verschlagenheit, Naivität, Gutmütigkeit oder Hinterhältigkeit, seine Sichtweise korrespondiert nicht immer mit der des Lesers. Doch im Augenblick seiner Lüge wird er meist schon vom Fortgang des Geschehens überrollt und muss sich korrigieren, was er mit den überraschenden Reaktionen seiner Kontrahentinnen begründet. Zum Amüsement des Lesers stellt er seine Fragen mit bestimmten Erwartungen, die fast immer enttäuscht werden, legt er seine Fährten für bestimmte Begegnungen, die dann gerade nicht stattfinden. Sein Raffinement wendet sich unvermittelt gegen seinen eigenen Plan. Ob die Damen nicht doch den besseren Plan habe n ?
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