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Die Aspern-Schriften (German Edition)

Die Aspern-Schriften (German Edition)

Titel: Die Aspern-Schriften (German Edition)
Autoren: Henry James
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dasaß und mir die Sache durch den Kopf gehen ließ; und sie wollte wissen, warum ich nicht jetzt gleich und noch bevor ich es auf mich nähme, bei den Damen Untermieter zu werden – was immerhin furchtbar unbequem werden könnte, selbst wenn ich Erfolg damit hätte –, eine ganz andere Möglichkeit ergriff und den Damen ganz einfach und ohne Umschweife eine Geldsumme anböte. Auf diese Weise würde ich vielleicht bekommen, was ich wollte, ohne mir schlaflose Nächte zu machen.
    »Verehrteste«, rief ich aus, »entschuldigen Sie die Ungeduld in meinem Tonfall, wenn ich Ihnen unterstelle, dass Sie genau die Tatsache vergessen haben müssen – über die ich gewiss mit Ihnen gesprochen habe –, die mich bewogen hat, mich Ihrem Einfallsreichtum anzuvertrauen. Die alte Dame wünscht es nicht, dass man ihre Erinnerungsstücke und Zeugnisse der Vergangenheit auch nur erwähnt; sie sind persönlich, heikel, intim, und sie sieht die Welt noch mit anderen Augen, in ihrem gesegneten Alte r ! Wenn ich gleich zu Anfang einen solchen Ton anschlage, habe ich das Spiel von vornherein verloren. Ich kann nur an meine Beute gelangen, wenn ich ihr Misstrauen zerstreue, und ich kann ihr Misstrauen nur dadurch zerstreuen, dass ich geschickte Kunstgriffe anwende. Scheinheiligkeit, Doppelzüngigkeit sind meine einzige Chance. Es tut mir leid, aber es gibt keine Niederträchtigkeit, die ich nicht um Jeffrey Asperns willen begehen würde. Erst muss ich mit ihr Tee trinken – dann kann ich das eigentliche Problem anpacken.« Dann erzählte ich ihr, wie es John Cumnor ergangen war, nachdem er ihr in höchst respektvoller Weise geschrieben hatte. Seinen ersten Brief hatte man offenbar gar nicht zur Kenntnis genommen, und der zweite war in äußerst brüsker Form, in sechs Zeilen, von der Nichte beantwortet worden. »Miss Bordereau habe sie gebeten, ihm mitzuteilen, dass sie sich nicht vorstellen könne, was ihn dazu bewogen habe, sie zu belästigen. Sie verfüge über keinerlei ›literarische Hinterlassenschaften‹ von Mister Aspern, und wenn sich solche in ihrem Besitz befänden, würde es ihr im Traum nicht einfallen, diese irgendjemandem zu zeigen, aus welchem Grund auch immer. Sie habe keine Vorstellung, wovon er überhaupt spreche, und bitte darum, er möge sie in Ruhe lassen.« Auf keinen Fall wollte ich in dieser Weise behandelt werden.
    »Mag sein«, sagte Mrs. Prest nach einer kurzen Pause und in herausforderndem Ton, »vielleicht haben sie wirklich nichts. Wenn sie es strikt abstreiten, woher wollen Sie es dann wisse n ?«
    »John Cumnor weiß es genau, aber es würde viel Zeit in Anspruch nehmen, Ihnen zu erklären, wie er zu seiner Überzeugung oder seiner stark begründeten Vermutung – stark genug, um sich gegen die durchaus verständliche Schwindelei der alten Dame behaupten zu können – gekommen ist. Übrigens misst er dem im Brief der Nichte enthaltenen Beweis große Bedeutung zu.«
    »Ein im Brief enthaltener Bewei s ?«
    »Sie nennt ihn ›Mister Aspern‹.«
    »Ich verstehe nicht, was das beweisen soll.«
    »Es beweist Vertrautheit, und Vertrautheit lässt auf den Besitz von Erinnerungsstücken, von greifbaren Gegenständen schließen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr mich dieses ›Mister‹ berührt – wie es die Kluft zwischen den Jahren überbrückt und mir unseren Helden näher bringt – und ebenso wenig, wie sehr es mein Verlangen verstärkt, Juliana persönlich zu begegnen. Sie würden auch nicht ›Mister‹ Shakespeare sagen.«
    »Würde ich es denn tun, wenn ich eine Schachtel voller Briefe von ihm hätt e ?«
    »Natürlich, wenn er ihr Liebhaber gewesen wäre und jemand diese Briefe haben wollt e !« Und ich fügte hinzu, John Cumnor sei dermaßen überzeugt gewesen und durch Miss Bordereaus Tonfall nur umso überzeugter, dass er persönlich in dieser Angelegenheit nach Venedig gekommen wäre, hätte es nicht den Hinderungsgrund gegeben, dass er, um auch nur das geringste Vertrauen zu gewinnen, hätte abstreiten müssen, mit der Person identisch zu sein, die ihnen die Briefe geschrieben hatte, denn trotz Verstellung und Namensänderung würden die alten Damen sicherlich einen solchen Verdacht hegen. Sollten sie ihn unverblümt fragen, ob er nicht der von ihnen abgewiesene Briefschreiber sei, wäre es allzu unangenehm für ihn, lügen zu müssen; ich hingegen war zum Glück nicht in dieser Weise verstrickt. Ich war ein unbeschriebenes Blatt – ich konnte leugnen, ohne zu lügen.
    »Sie werden
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