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Die Aspern-Schriften (German Edition)

Die Aspern-Schriften (German Edition)

Titel: Die Aspern-Schriften (German Edition)
Autoren: Henry James
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ersten Blick in die gesamte Örtlichkeit verguckt – sie ihrerseits sei möglicherweise so sehr daran gewöhnt, dass sie sich nicht vorstellen könne, welchen Eindruck das Ensemble auf einen Fremden machen könne – daher hätte ich es in jeder Hinsicht für wert befunden, das Risiko auf mich zu nehmen. Dürfte ich ihre Freundlichkeit, mich zu empfangen, als Zeichen dafür werten, dass ich in meiner Einschätzung nicht völlig fehl ging e ? Es würde mich unendlich glücklich machen, wenn ich davon ausgehen dürfte. Ich könne ihr mein Ehrenwort geben, dass ich ein äußerst ehrenwerter, friedfertiger Mensch sei und sie beide mich als Mitbewohner des Palazzo, wenn ich so sagen dürfe, kaum bemerken würden. Ich würde mich allen Regeln und Beschränkungen fügen, sofern sie mir gestatteten, den Garten zu genießen. Darüber hinaus wäre es mir ein Vergnügen, ihr Referenzen und Garantien vorzulegen; sie stammten von den besten Adressen, aus Venedig und England wie auch aus Amerika.
    Sie hörte mir schweigend zu, und ich fühlte ihren Blick mit großer Eindringlichkeit auf mir ruhen, obwohl ich nur den unteren Teil ihres bleichen, runzeligen Gesichts sehen konnte. Unabhängig von der Zerbrechlichkeit, die das hohe Alter mit sich bringt, war es von einer Zartheit, die früher einmal hinreißend gewesen sein muss. Sie dürfte einmal sehr hübsch gewesen sein, mit einem wundervollen Teint. Sie schwieg noch eine Weile, nachdem ich zu Ende gesprochen hatte; dann sagte sie: »Wenn Ihnen so viel an einem Garten liegt, warum gehen Sie dann nicht auf die terraferma , wo es so viele weit schönere Gärten als den unseren gib t ?«
    »Nein, nein, es ist die Kombinatio n !« antwortete ich lächelnd; und in einem Anflug von Fantasierlust setzte ich hinzu: »Es ist die Vorstellung von einem Garten mitten im Meer.«
    »Wir sind nicht mitten im Meer; Sie können das Wasser nicht einmal sehen.«
    Ich starrte einen Moment ins Leere und fragte mich, ob sie mich der Täuschung überführen wollte. »Das Wasser nicht sehe n ? Ich bitte Sie, meine Dame, ich kann in meinem Boot bis vor Ihre Haustür fahren.«
    Sie schien den Faden zu verlieren, denn ihre Antwort klang geistesabwesend: »Ja, wenn man ein Boot besitzt. Ich habe keins; es ist viele Jahre her, seit ich zuletzt in einer gondola gesessen habe.« Sie sprach diese Worte, als handelten sie von einem seltsamen Fahrzeug aus fernen Landen, das ihr nur vom Hörensagen bekannt war.
    »Gestatten Sie mir, Ihnen zu versichern, mit welcher Freude ich Ihnen meine Gondel zur Verfügung stellen würd e !« antwortete ich. Kaum hatte ich dies ausgesprochen, wurde mir bewusst, dass meine Äußerung einen zweifelhaften Beigeschmack hatte und mir auch insofern schaden konnte, als sie mich zu eifrig, zu besessen von einem verborgenen Motiv erscheinen ließ. Doch die alte Frau blieb undurchschaubar, und ihre Haltung beunruhigte mich, weil sie mir das Gefühl gab, dass sie eine umfassendere Sicht von meiner Person hatte als ich von der ihren. Sie bedankte sich nicht für mein leicht übertriebenes Angebot, sondern bemerkte stattdessen, dass die Dame, die ich am Tag zuvor kennen gelernt hatte, ihre Nichte sei; sie werde jeden Augenblick hereinkommen. Sie habe sie ausdrücklich gebeten, sich noch eine Weile fernzuhalten – sie habe nämlich ihre Gründe, mich zuerst allein sehen zu wollen. Dann verfiel sie wieder in Schweigen, und ich grübelte über die ungenannten Gründe nach und fragte mich, was wohl als Nächstes kommen mochte. Auch dachte ich darüber nach, ob ich es wagen sollte, ein paar wohl überlegte Worte zur Lobpreisung ihrer Gefährtin zu sagen. Schließlich äußerte ich immerhin so viel, dass ich entzückt wäre, unsere abwesende Freundin wiederzusehen: Sie habe mir gegenüber so viel Geduld gezeigt, wenn man bedenke, wie befremdlich ich ihr erschienen sein müsse – eine Äußerung, die Miss Bordereau veranlasste, eine weitere wunderliche Bemerkung von sich zu geben.
    »Sie hat sehr gute Manieren; ich habe sie selbst großgezoge n !« Ich war schon drauf und dran zu sagen, das erkläre die taktvolle Art der Nichte, doch konnte ich mich gerade noch zurückhalten, und im selben Augenblick fuhr die alte Dame fort: »Es ist mir gleich, wer Sie sind – ich will es gar nicht wissen; heutzutage bedeutet es nur wenig.« Es klang ganz so, als sollte es die Einleitung zur Verabschiedung sein, als würden ihre nächsten Worte lauten, dass ich mich nun auf den Weg machen könne, da sie das
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