Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Aspern-Schriften (German Edition)

Die Aspern-Schriften (German Edition)

Titel: Die Aspern-Schriften (German Edition)
Autoren: Henry James
Vom Netzwerk:
finden, werden Sie es sich als Sieg anrechnen.«
    Ich rechnete es mir tatsächlich als Erfolg an, aber – in letzter Konsequenz – nur für den Herausgeber des Werkes, nicht für den Mann, für den persönliche Eroberungen nicht zu seinen Gepflogenheiten gehörten. Als ich am folgenden Tag wieder vorsprach, führte mich das kleine Dienstmädchen auf dem direktesten Weg durch den langen Empfangssaal, der sich wie beim ersten Mal in ganzer Länge vor mir auftat, diesmal jedoch heller war, was ich für ein gutes Omen hielt – und geleitete mich in den Wohnraum, aus dem die Dame, die mich bei meinem ersten Besuch am Vortag empfangen hatte, herausgetreten war. Bei der Erinnerung verspüre ich heute fast das gleiche Herzklopfen wie damals, als sich die Tür hinter mir schloss und mir nach und nach bewusst wurde, dass ich tatsächlich jener Juliana aus Asperns gelungensten und bekanntesten Gedichten gegenüberstand. Später gewöhnte ich mich an sie, doch niemals völlig; als sie aber dort vor mir saß, schlug mein Herz so heftig, als hätte sich das Wunder der Auferstehung gerade vor meinen Augen ereignet. Ihre Gegenwart schien die seine auf unerklärliche Weise mit einzuschließen und zum Ausdruck zu bringen, und ich fühlte mich ihm in diesem ersten Augenblick, da ich sie sah, näher, als ich es je gewesen war oder mich seither je wieder fühlte. Ja, ich erinnere mich an meine Empfindungen und in welcher Reihenfolge sie auftraten, sogar an ein seltsames leichtes Erbeben, das mich befiel, als ich bemerkte, dass die Nichte nicht anwesend war. Mit ihr hatte ich am Vortag ausreichend Bekanntschaft geschlossen, doch es überstieg beinahe meinen Mut, sosehr ich dieses Ereignis auch herbeigesehnt hatte – mit einer so respektgebietenden Zeugin der Vergangenheit wie der Tante alleingelassen zu werden. Sie war zu fremdartig, zu wiedererweckend, ja buchstäblich eine Auferstehung. Doch dann bekam ich einen Dämpfer, als ich wahrnahm, dass wir uns nicht wirklich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, da sie zum Schutz ihrer Augen einen scheußlichen grünen Schirm trug, der ihr fast als Maskierung diente. Im ersten Augenblick dachte ich, sie hätte ihn absichtlich aufgesetzt, damit sie mich darunter ausgiebig mustern könnte, ohne mir den Blick auf sich zu ermöglichen. Gleichzeitig erweckte der Schirm bei mir den Eindruck, dahinter lauere ein schauerlicher Totenkopf. Die göttliche Juliana als grinsender Totenschädel – die Vision schwebte mir lange vor Augen. Dann fiel mir ein, dass sie tatsächlich unglaublich alt war – so alt, dass der Tod sie jeden Augenblick dahinraffen konnte, bevor ich die Zeit gehabt hätte, mein Ziel zu erreichen. Der nächste Gedanke bedeutete eine Korrektur des ersten; er ließ die Situation leichter erscheinen. Mochte sie nächste Woche sterben, mochte sie morgen sterben – dann konnte ich mich über ihre Besitztümer hermachen und ihre Schubladen durchwühlen. Derweil hatte sie dort gesessen und sich weder geregt, noch ein Wort gesprochen. Sie war winzig klein und eingesunken, saß nach vorne gebeugt mit den Händen im Schoß. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, und ihr Kopf war in ein Stück alter schwarzer Spitze gehüllt, aus dem kein Haar herausschaute.
    Da meine Gefühlswallung mich stumm machte, sprach sie zuerst, und was sie zu sagen hatte, kam völlig unerwartet.

III

    »Unser Haus liegt weit vom Stadtzentrum entfernt, aber der kleine Kanal ist ganz comme il faut. «
    »Es ist die reizvollste Ecke Venedigs, und ich kann mir nichts Bezaubernderes vorstellen«, antwortete ich ohne Verzögerung. Die Stimme der alten Dame klang dünn und schwach, hatte aber eine angenehme, kultivierte Tonlage, und die Vorstellung, dass dieser besondere Tonfall in Jeffrey Asperns Ohren gedrungen sein sollte, hatte etwas Wunderbares.
    »Nehmen Sie doch bitte dort Platz. Ich höre sehr gut«, sagte sie leise, als hätte ich gerade zu laut gesprochen; und der Stuhl, auf den sie wies, stand recht weit entfernt. Ich nahm dort Platz und versicherte ihr, dass ich mir sehr wohl bewusst sei, hier unvermittelt eingedrungen zu sein, ohne ihr angemessen vorgestellt worden zu sein, sodass ich jetzt nur auf ihre Nachsicht hoffen könne. Vielleicht habe die andere Dame, diejenige, der zu begegnen ich am Vortag die Ehre hatte, ihr dargelegt, was es mit dem Garten auf sich habe. Dieser sei der eigentliche Grund, der mir den Mut verliehen habe, einen so ungewöhnlichen Schritt zu vollziehen. Ich hätte mich auf den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher