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Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
Autoren: Jeannette Walls
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kannte.«
    Arrangements waren Marks Spezialität. Ein anderes Mal brachte Mom wieder ein Album mit. Es war von den Tokens, mit ihrem Hit »The Lion Sleeps Tonight«. Mark hatte den Song, der schon ein paarmal aufgenommen worden war, ohne richtig einzuschlagen, neu arrangiert, erklärte Mom. Zuerst wollten die Tokens Marks Version nicht, aber er konnte sie überreden und machte sogar beim Backgroundgesang mit. Wenn man genau hinhörte, konnte man seinen Bariton in den Harmonien erkennen.
     
    Für eine Mom war Mom noch immer hübsch. An ihrer Highschool in Virginia war sie mal zur Schönheitskönigin gekürt worden, und man konnte sehen, warum. Sie hatte große braune Augen und sonnengebleichtes blondes Haar, das sie zu Hause als Pferdeschwanz trug, aber auskämmte und auftoupierte, wenn sie nach Los Angeles fuhr. Sie hatte ein paar Pfund zugelegt seit der Highschool, das gab sie zu, aber sie meinte, dadurch hätte sie auch etwas mehr Oberweite, und was das anging, konnte eine Sängerin nie genug haben. Zumindest brachte es ihr manchmal eine zweite Chance ein, wenn sie irgendwo vorgesungen hatte.
    Mark stünde auf ihre Kurven, erzählte Mom uns, und seit sie ihn kennengelernt hatte, sah sie plötzlich jünger aus und benahm sich auch so. Ihre Augen sprühten vor Leben, wenn sie nach Hause kam und uns erzählte, wie Mark sie zum Segeln mitgenommen oder für sie Jakobsmuscheln pochiert hatte und wie sie ihm die Tanzschritte für den Carolina Shag beigebracht hatte. Mom hieß mit Vornamen Charlotte, und Mark hatte für sie einen Cocktail mit Pfirsichlikör, Bourbon, Grenadine und Cola erfunden, den er Shakin’ Charlotte nannte.
    Doch nicht alles an Mark war perfekt. Er hätte eine dunkle Seite, erklärte Mom. Er wäre launisch, wie alle echten Künstler, aber das war sie ja auch, und ihre Zusammenarbeit hatte schon so manche stürmische Auseinandersetzung erlebt. Manchmal rief Mom ihn spätabends an – sie hatte die strittigen Gebühren bezahlt, sodass wir wieder telefonieren konnten –, und Liz und ich hörten sie Sachen wie »Bei dem Song muss am Schluss ein Akkord kommen, keine Ausblendung!« ins Telefon schreien. Oder: »Mark, du erwartest zu viel von mir!« Das waren kreative Differenzen, wie Mom sagte. Mark wollte möglichst bald ein Demoband von ihren besten Songs produzieren und den großen Plattenfirmen vorspielen, und es war ganz normal, dass Künstler sich heftig in die Haare gerieten, wenn ein Termin drängte.
    Ich fragte Mom immer wieder, wann Liz und ich Mark Parker endlich kennenlernen würden. Mom erklärte, dass Mark sehr beschäftigt war, ständig nach New York oder London jettete und keine Zeit hatte, den weiten Weg nach Lost Lake rauszukommen. Ich schlug vor, wir könnten doch mal am Wochenende nach Los Angeles fahren und uns dort mit ihm treffen, aber Mom schüttelte den Kopf. »Bean, ehrlich gesagt, er ist eifersüchtig auf Liz und dich«, erklärte sie. »Er meint, ich rede zu viel über euch Mädchen. Mark ist leider manchmal ein bisschen besitzergreifend.«
    Als Mom ein paar Monate mit Mark zusammen war, kam sie eines Tages nach Hause und erzählte uns, dass Mark trotz seines vollen Terminkalenders und trotz seiner besitzergreifenden Ader eingewilligt hatte, am nächsten Mittwoch nach Lost Lake zu kommen und Liz und mich nach der Schule kennenzulernen. Wir drei verbrachten den Dienstagabend damit, wie wild den Bungalow zu putzen, Sachen in den Schrank zu stopfen, Moms lila Fledermaussessel über die Stelle im Teppich zu schieben, wo sie mal Tee verschüttet hatte, die Türklinken und Fensterrahmen zu wienern, Moms Windspiel zu entwirren und die getrockneten Spuren von Schluck-und-Spuck vom Boden zu kratzen. Während wir arbeiteten, sangen wir »The Lion Sleeps Tonight« zuerst alle drei zusammen: »In the jungle, the mighty jungle …« Dann übernahm Liz den Refrain: »O-wim-o-weh o-wim-o-weh o-wim-o-weh«, Mom das hohe »A-wuuu-wuuu-wuuu«, und ich fiel mit dem Bass ein: »Ii-dam-bam-baway.«
     
    Am nächsten Tag rannte ich sofort nach Schulschluss zurück zum Bungalow. Ich war in der sechsten Klasse der Grundschule, und Liz ging schon zur Highschool, deshalb kam ich immer als Erste nach Hause. Mom hatte uns erzählt, dass Mark einen gelben Triumph TR 3 mit Speichenrädern fuhr, aber das einzige Auto, das an dem Nachmittag vor unserem Bungalow parkte, war unser alter brauner Dart, und als ich reinkam, saß Mom auf dem Fußboden, mitten in einem Haufen Bücher, Schallplatten und
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