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Die Anatomie des Todes

Die Anatomie des Todes

Titel: Die Anatomie des Todes
Autoren: Michael Katz Krefeld
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ereignet.

2
    Um 4.36 Uhr war Majas alter Mercedes das einzige Auto auf der Straße. Ihre Schicht im Skansebakken-Krankenhaus hatte länger als vierundzwanzig Stunden gedauert. Jetzt blieben ihr noch nicht einmal sechs Stunden Schlaf, ehe sie ihren anderen Job im Ärztehaus in der Haraldsgata beginnen würde. Sie ermahnte sich, dass sie gleich links abbiegen musste.
    Die schlafende Stadt glich all den anderen anonymen Städten, die sie auf ihrer Reise durch Norwegen kennengelernt hatte. Ob die Namen auf -vik, -dal, -sand oder -fjord endeten, machte keinen Unterschied. Die Städte hatten schon lange keine Bedeutung mehr. Die Wege, die Arbeit, alles schien sich beständig zu wiederholen. Das musste die wahre Anatomie der Hölle sein.
    Â»Verdammt!«
    Schon wieder hatte sie die kleine Seitenstraße übersehen, die zum Meer hinunterführte. Von dort aus spannte sich die Brücke zur sogenannten Heringsinsel, auf der sie wohnte. Jetzt musste sie entweder den Umweg durch die Stadtmitte oder das Risiko in Kauf nehmen, die dreihundert Meter auf dem Kaivegen gegen die Fahrtrichtung hinter sich zu bringen. In Anbetracht der frühen Tageszeit entschied sie sich für den kürzeren Weg und bog nach links ab.
    Sie drückte aufs Gaspedal und hatte zirka die Hälfte der schmalen Straße zurückgelegt, als sie vom grellen Fernlicht eines Lastwagens geblendet wurde. Das Licht kam ihr mit unverminderter Geschwindigkeit entgegen und wurde von einer zweitonigen Hupe begleitet, die ihr in den Ohren
gellte. Sie trat auf die Bremse und riss den Wagen zur Seite, sodass er auf den Bordstein sprang. Im nächsten Moment donnerte auch schon das Müllauto an ihr vorüber. Der Fahrer hatte den Kopf aus dem Fenster gestreckt und schrie ihr einen Fluch nach. Sie schaltete den Hebel des Automatikgetriebes auf Drive und rollte die letzten hundert Meter im Schneckentempo dem Hafenbecken entgegen.
    Maja fuhr weiter am Kai entlang, der sich steil aufbäumenden Haraldsbrücke entgegen, die beide Stadtteile miteinander verband: den reichen, expandierenden Teil, in dem sie arbeitete, und den armen, trostlosen Bezirk, in dem sie sich eingemietet hatte. Mit ihrem abgenutzten grauen Beton erinnerte die Brücke vor allem an die deutsche Besatzungszeit, bot dafür jedoch eine grandiose Aussicht. Wenn man am Geländer stand, achtundzwanzig Meter über der Meerenge, konnte man das gesamte Hafenbecken überblicken und bei klarer Sicht bis zur äußersten Spitze des Svartafjords sehen, wo die Wellen schäumend gegen die Klippen schlugen.
    Sie überquerte die Brücke, bog nach links ab und fuhr an der Montagehalle B der Offshore-Werft entlang, wo Tag und Nacht die großen Ölplattformen gebaut wurden. Die Konstruktion war so groß, dass sie zur Hälfte aus der Halle herausragte und an ein Raumschiff aus einem Science-Fiction-Roman erinnerte.
    Dafür sah das Viertel, in das Maja jetzt kam, so gar nicht nach Science-Fiction aus. Sie fuhr ein Stück weit die Losgata entlang und parkte schließlich vor einem baufälligen Holzhaus, in dem sie im ersten Stock ein Zimmer gemietet hatte. Angesichts der Tatsache, dass sie sich nur äußerst selten hier aufhielt, konnte sie mit der dürftigen Behausung leben, die ihr das Ärztehaus vermittelt hatte. Schlimmer war es um die bestellt, die im sogenannten Heringsviertel geboren und aufgewachsen waren.

    Abgesehen von Maja und einigen anderen Ausländern, von denen die meisten auf der Werft arbeiteten, beheimatete dieses Viertel vor allem Arbeitslose, Rentner und Junkies. Vielleicht war das auch der Grund, warum die Heringsinsel im Volksmund als »Insel der Verdammten« bezeichnet wurde. Ob man hier als Arzt, Ingenieur oder Schweißer arbeitete, aus Laos oder aus Lyngby kam, ob man Arztkittel, Krawatte oder Blaumann trug, so galten doch alle in der schlimmsten Bedeutung des Wortes als Fremdarbeiter. Und geduldet wurde man einzig und allein, weil man der Stadt seine Arbeitskraft zur Verfügung stellte.
    Â 
    Maja warf sich vollständig angezogen aufs Bett. Sie war körperlich völlig am Ende, aber ihre Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Sie wusste sofort, dass sie keinen Schlaf finden würde. Die Erlebnisse in der Notaufnahme wollten ihr nicht aus dem Kopf: Patienten, Diagnosen, Infusionen, Röntgenbilder, Betablocker, Hirnödeme … alle Bilder und Ereignisse der vergangenen Nacht ballten sich so dicht zusammen,
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