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Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)

Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)

Titel: Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)
Autoren: Jonas Jonasson
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er.
    »Nein«, sagte das Mädchen.
    »Bist du schwanger?«
    »Nein«, sagte das Mädchen.
    Der Assistent schwieg ein paar Sekunden. Im Grunde wollte er wirklich nicht öfter als unbedingt nötig hierherkommen.
    »Wie heißt du?«, fragte er.
    »Nombeko«, sagte das Mädchen.
    »Nombeko und wie weiter?«
    »Mayeki, glaub ich.«
    Mein Gott, die kannten nicht mal ihren eigenen Namen.
    »Dann kriegst du eben den Job. Wenn du es schaffst, nüchtern zu bleiben«, sagte der Assistent.
    »Das schaffe ich«, sagte das Mädchen.
    »Gut.«
    Und damit wandte sich der Assistent an den Abgesetzten.
    »Vereinbart waren drei Monatslöhne für drei Kandidaten. Macht dann also einen Monatslohn für einen Kandidaten. Abzüglich einen Monatslohn dafür, dass du es nicht fertiggebracht hast, mir etwas Besseres zu präsentieren als eine Zwölfjährige.«
    »Vierzehn«, sagte das Mädchen.
    Piet du Toit ging grußlos von dannen, seinen Leibwächter immer zwei Schritt hinter sich.
    Das Mädchen, das gerade Chefin ihres eigenen Chefs geworden war, dankte ihm für seine Hilfe und erklärte, dass er mit sofortiger Wirkung wiedereingestellt war, als ihre rechte Hand.
    »Und was ist mit Piet du Toit?«, fragte ihr ehemaliger Chef.
    »Wir ändern einfach deinen Namen. Ich bin ziemlich sicher, dass der Assistent einen Neger nicht vom anderen unterscheiden kann.«
    Sagte die Vierzehnjährige, die aussah wie zwölf.
    * * * *
    Die neu ernannte Chefin der Latrinenleerungstruppe von Sektor B in Soweto hatte nie eine Schule besucht. Das lag zum einen daran, dass ihre Mutter andere Prioritäten gesetzt hatte, zum andern aber auch an dem Umstand, dass das Mädchen ausgerechnet in Südafrika zur Welt gekommen war, und das auch noch in den frühen Sechzigern, als die politischen Machthaber die Meinung vertraten, dass Kinder von Nombekos Sorte nicht zählten. Der damalige Premierminister war berühmt für seine rhetorische Frage, warum Schwarze denn in die Schule gehen sollten, wenn sie doch sowieso nur dazu da waren, Brennholz und Wasser zu tragen.
    Rein sachlich gesehen irrte er, denn Nombeko trug weder Brennholz noch Wasser, sondern Scheiße. Trotzdem gab es keinen Grund zu der Annahme, dass dieses schmächtige Mädchen eines schönen Tages mit Königen und Präsidenten verkehren würde. Oder ganze Nationen in Angst und Schrecken versetzen. Oder die Entwicklung der Weltpolitik im Allgemeinen beeinflussen.
    Wenn sie nicht die gewesen wäre, die sie war.
    Doch die war sie nun mal.
    Unter vielem anderen war sie ein fleißiges Kind. Schon als Fünfjährige schleppte sie Latrinentonnen, die so groß waren wie sie selbst. Beim Latrinentonnenleeren verdiente sie genau so viel, wie ihre Mutter brauchte, um ihre Tochter jeden Tag bitten zu können, ihr eine Flasche Lösungsmittel zu kaufen. Ihre Mutter nahm die Flasche mit den Worten »Danke, mein liebes Mädchen« entgegen, schraubte sie auf und begann, den ewigen Schmerz zu betäuben, der darin wurzelte, dass sie weder sich selbst noch ihrem Kind eine Zukunft bieten konnte. Nombekos Vater war zwanzig Minuten nach der Befruchtung zum letzten Mal in der Nähe seiner Tochter gewesen.
    Je älter Nombeko wurde, desto mehr Latrinentonnen konnte sie pro Tag leeren, und so reichte das Geld für mehr als nur Lösungsmittel. Daher konnte ihre Mutter das Lösungsmittel mit Tabletten und Alkohol ergänzen. Doch das Mädchen sah, dass es so nicht weitergehen konnte, und erklärte seiner Mutter, sie müsse sich entscheiden: entweder aufhören oder sterben.
    Ihre Mutter nickte und verstand.
    Die Beerdigung war gut besucht. In Soweto gab es zu dieser Zeit jede Menge Leute, die sich hauptsächlich zweierlei Beschäftigungen widmeten: sich selbst nach und nach ins Grab zu bringen oder aber denjenigen das letzte Geleit zu geben, denen das bereits gelungen war. Nombekos Mutter starb, als ihre Tochter zehn Jahre alt war, und ein Vater war, wie gesagt, nicht greifbar. Das Mädchen erwog, dort weiterzumachen, wo seine Mutter aufgehört hatte, und sich auf chemischem Wege einen permanenten Schutz vor der Wirklichkeit aufzubauen. Doch als der erste Lohn nach dem Tod der Mutter eintraf, beschloss sie, sich stattdessen etwas zu essen zu kaufen. Und als sie ihren Hunger gestillt hatte, sah sie sich um und sagte:
    »Was tue ich hier?«
    Gleichzeitig wurde ihr aber klar, dass sie keine unmittelbare Alternative hatte. In erster Linie verlangte der südafrikanische Arbeitsmarkt nicht nach zehnjährigen Analphabeten. In zweiter Linie eigentlich
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