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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
Autoren: Kai Meyer
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zeigte an sich hinunter, als wäre ihm die Unsterblichkeit wie ein Kainsmal anzusehen. »Ich will ihnen nicht begegnen, nicht mit ihnen sprechen. Ich würde dich sogar bitten, ihnen nicht zu erzählen, dass ich hier war – wenn ich nicht genau wüsste, dass du es trotzdem tun musst.«
    Hätte sie ihm widersprechen sollen? Sie brachte es nicht über sich, schon allein weil er sie so wütend machte. Was er sagte, war einfach nicht fair. »Sie haben es sich nicht leicht gemacht«, sagt sie.
    »Und was war so schwer daran, einem Bewusstlosen dieses Zeug einzuflößen?«
    »Du weißt genau, was ich meine!«
    Kopfschüttelnd wandte er sich von ihr ab. Mit wenigen Schritten ging er zur Grabtafel ihrer Mutter hinüber, berührte sie mit den Fingerspitzen und murmelte etwas, das ein Abschied und ein Dank sein mochte. Dann kam er noch einmal zurück, legte vorsichtig einen Finger in das tastende Händchen des Kindes
und flüsterte: »Auf Wiedersehen, Jonathan. Irgendwann begegnen wir uns wieder. Du wirst dann älter sein, ich nicht.«
    »Gian, tu das nicht«, flehte sie ihn an. »Geh nicht einfach fort.«
    Er griff mit einer Hand an Tess’ Hinterkopf, so schnell, dass sie zusammenzuckte, aber er beugte sich nur über das Kind hinweg und küsste sie auf beide Wangen.
    »Ich werde dich immer sehr gern haben«, sagte er.
    »Sie sind deine verdammten Eltern!«
    »Ja ... das ist das richtige Wort.« Damit wandte er sich ab und ging zurück zum Portal des Mausoleums. Im Hintergrund ließ der Seewind Staubwirbel zwischen den Gräbern tanzen.
    »Gian, bitte ...«
    »Leb wohl, Tess.«
    Leise zog er die Tür hinter sich zu.

EPILOG
    Aura öffnete den schmalen Hinterausgang des Schlosses und trat hinaus auf die Kreideklippe. Ein kalter Wind blies über das Meer heran, unermüdlich brachen sich schäumende Wellen an den Felsfundamenten der Insel. Weiter draußen hielt der alte Leuchtturm unvermindert Wetter und Gezeiten stand, obwohl sein Feuer längst erloschen war und niemand es wieder entzünden würde.
    Langsam näherte sie sich dem Rand der Klippe. Der Wind spielte mit den schwarzen Strähnen ihres Haars; sie hatte beschlossen, es wieder lang wachsen zu lassen. Durch den Mantel, den sie eng um ihren Körper zog, drang die Kälte wie durch Papier. Bald würde der Winter über all das hier hereinbrechen und das flache Küstenland noch weiter entvölkern. Die Bauernfamilien verbarrikadierten sich dann am Ofen ihrer Häuser und die Schneewehen machten die einzige Bahnverbindung zur Außenwelt unpassierbar. Tess und Maximilian würden sich etwas einfallen lassen müssen, um ihre gemeinsamen Wochenenden aufrechtzuerhalten. Aura hatte Tess vorgeschlagen, zumindest die Wintermonate in Berlin zu verbringen, aber ihre Nichte hatte davon nichts hören wollen. Aus irgendeinem Grund hatte Sylvettes Tod in Tess eine Liebe zu diesem Ort geweckt, die ihr vor wenigen Wochen noch fremd gewesen wäre. Vielleicht würde sich das irgendwann geben, vielleicht auch nicht. Dem Gemäuer jedenfalls tat es gut, dass es weiterhin bewohnt wurde; außerdem sicherte die Anwesenheit der Familie die Löhne der Diener und Hausmädchen, für die es sonst in dieser Gegend keine Anstellung gab.

    Für einen Moment breitete Aura am Rand der Klippe die Arme aus, als wollte sie sich zu den Möwenschwärmen über dem tosenden Meer gesellen. Sie legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Sie mochte den würzigen Geruch der See, das Tosen der Wogen, das Geschrei der Vögel. Vor vielen Jahren hatte sie diesem Ort den Rücken gekehrt, in der Hoffnung, ihn nie wiederzusehen. Heute aber spürte auch sie eine tiefe Dankbarkeit dafür, dass es ihn noch immer gab, so unveränderlich in der Brandung wie sie selbst.
    Hinter ihr knirschte die Tür im Efeu.
    »Hier also bist du«, sagte Gillian.
    Sie wandte sich um und freute sich über seinen Anblick vor den üppigen Ranken. Er sah aus wie das Ölporträt eines Präraffaeliten, eines jener androgynen Geschöpfe, die in zeitlosen romantischen Landschaften an ihren Melancholien litten. Doch Gillian litt längst nicht so offensichtlich wie die Männer und Frauen in den Gemälden; tatsächlich hatte er Gians Entscheidung schneller akzeptiert als Aura und war mit sich im Reinen über das, was sie getan hatten.
    Zwei Wochen waren vergangen, seit ihr Sohn zurückgekehrt und wieder verschwunden war. Tess hatte ihnen nur zögernd davon erzählt. Sie fühlte sich ihm noch immer verpflichtet wie einem Bruder, obgleich jetzt noch
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