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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
Autoren: Kai Meyer
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Haut pflückte, sanft wie einen Marienkäfer.
    Gillian ging neben Aura in die Hocke, legte einen Arm um sie und hielt sie fest, während Axelle auf der anderen Seite des Leichnams allein dasaß, den Kopf nach vorn gebeugt, bis es aussah, als wäre das Blutrinnsal auf Sylvettes Gesicht nur eine rote Locke ihrer Geliebten.
    Irgendwann wanderte Auras Hand wie von selbst zu der silbernen Ampulle in ihrer Tasche, aber sie wusste, dass es dafür zu spät war. Das Gilgameschkraut verlängerte das Leben, aber es besiegte niemals den Tod.
    »Sie muss zurück ins Schloss«, flüsterte sie nach langem Schweigen. »Sie hätte es so gewollt.«
    Axelle nickte ohne sie anzusehen und streichelte weiter Sylvettes blondes Haar.
    »Wir müssen los«, sagte Gillian sanft. »Gian braucht uns jetzt.«
    Für Sylvette kam das Kraut zu spät, aber Gian mochte es retten. Und trotzdem war es so schwer, einfach fortzugehen, sie hier zurückzulassen, selbst in der liebevollsten Obhut.
    Aura beugte sich vor und gab ihrer Schwester einen letzten Kuss. Dann überließ sie Sylvette Axelles Umarmung, ging wie
in Trance hinüber zu Sophia und vergewisserte sich, dass kein Leben mehr in ihr war. Es war ein schrecklicher Sieg, und doch einer, den niemand Sylvette mehr nehmen konnte.
    Gemeinsam mit Gillian humpelte sie zu Severins offener Werkstatt, dem Durchgang zum Palais, und als sie gerade durch die Tür treten wollten, erhob Axelle hinter ihnen noch einmal die Stimme und rief durch die Passage herüber:
    »Du hättest sie retten können, Aura, aber er war dir wichtiger! Irgendwann wirst du dafür bezahlen! Damit kommst du nicht davon!«
    Aura blieb stehen, wandte sich aber nicht zu ihr um. Sie hielt auch Gillian zurück, als der etwas antworten wollte.
    Axelles Stimme schien aus allen Richtungen zugleich zu kommen, von den Lippen all der eisernen Jugendstilnymphen und Blumenmädchen, die die Wände und Balustraden der Passage bevölkerten.
    »Ich bin nicht unsterblich wie ihr«, rief sie den beiden nach, »also wird es keine Ewigkeit dauern! Die Geschichte der Octavians und Institoris ist noch nicht zu Ende!«
    Aura schloss kurz die Augen, rieb sich Tränen vom Gesicht und ging mit Gillian hinüber ins Haus.
    Als sie im Foyer die Kommode beiseiteschoben und die Haustür öffneten, trat Anatol Dolchow zwischen den Säulen des Arkadengangs hervor. Auf seiner Schulter saß der kleine Affe und fauchte. Es war noch immer tiefe Nacht, der Schein der Straßenlaternen reichte kaum bis unters Vordach. Trotzdem musterte der halbblinde Architekt die beiden, dann deutete er hinüber zu zwei schwarzen Automobilen auf der anderen Straßenseite. Eines war ein neues Modell, groß und schwer und stabil genug für die Fahrt nach Wien.
    »Gehörte das Graugast?«, fragte Aura. Die Straße war menschenleer, keine Polizei weit und breit, trotz der Schüsse. Lysander hatte vorgesorgt und seine Verbindungen spielen lassen.

    Dolchow nickte und wartete, bis sie im Freien standen. Dann blickte er an ihnen vorbei in die helle Eingangshalle. »Darf ich?« Jetzt sah Aura, dass sein eines Auge glänzten, Ausdruck seiner Hoffnung auf ein lang ersehntes Wiedersehen.
    »Natürlich«, sagte sie. »Sie haben dieses Haus gebaut. Sophia wird Sie nie wieder davonjagen.«
    Er schluckte, atmete tief durch, dann betrat er bedächtig und glücklich das Palais Octavian.
    Aura und Gillian aber überquerten die leere Straße, achteten nicht auf die Umrisse der verstohlenen Beobachter in erleuchteten Fenstern, auch nicht auf ein fernes Läuten, das nun doch noch von der anderen Flussseite über die Karlsbrücke näher kam.
    Gillian brauchte nur Augenblicke, um den Motor zu starten, dann waren sie auf dem Weg nach Wien.

KAPITEL 59
    Im Kreuzgang des Klosters hätten sich wohl auch bei Sonnenschein Schatten eingenistet. Aber an einem bedeckten Nachmittag wie diesem war er erfüllt von einer Düsternis, in der Aura sich sofort zuhause fühlte. Nach stundenlanger Nachtfahrt hatte die Sonne sie am Vormittag eingeholt und die Wälder und Ackerlandschaften in den Abglanz eines längst vergangenen Spätsommers getaucht. Aura war es vorgekommen wie ein Traum von Licht und Wärme, nicht wie die Wirklichkeit. In ihrem Inneren war die Nacht noch lange nicht vorüber, und so war sie dankbar gewesen, als sie bei ihrer Ankunft in Wien vom violetten Dämmer eines drohenden Unwetters begrüßt worden waren.
    Ein Mönch, den Gillian mit Namen begrüßte, führte sie vom Kreuzgang in einen schmucklosen Korridor.
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