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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman
Autoren: Aufbau
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Besucherin eilig ihre Sachen zusammenraffte und verschwand. Dann setzte Helmut sich wie jeden Morgen im Bademantel vor den Fernseher und schaute Eurosport. Und nur noch selten dachte er daran, was aus ihm hätte werden können. Manchmal registrierte er einen leichten Druck im Oberbauch, so als klumpten sich dort seine ungenutzten Möglichkeiten. Meist half dagegen bereits ein großes Glas eiskalte Milch, und der Schmerz wich einer dumpfen Kälte. Oder er schloss die Augen, legte den Kopf zurück in den Nacken und atmete so lange kräftig ein und aus,bis seine Beklommenheit einem angenehmen Schwindelgefühl Platz machte und er spürte, wie alles leicht und formlos zu werden begann und er in einen erlösenden Vormittagsschlaf fiel.
    Seit dem Nachlassen des Tennisbooms Anfang der neunziger Jahre und der Abwanderung vieler zum Golf als neuer Prestigesportart hatte auch Helmut einen starken Rückgang seiner Kundschaft zu beklagen. In seinem orangefarbenen Dunlop-Unterrichtsplaner klafften immer größere Lücken. Anfang der siebziger Jahre, als überall Anlagen entstanden und Clubs gegründet wurden, hatten Trainer wie Helmut ein mehr als erkleckliches Auskommen. Von Reichtum konnte nicht die Rede sein; doch Helmut, der bereit war, zwölf Stunden pro Tag bei Wind und Wetter auf dem Tennisplatz zu stehen, schuf sich einen gewissen Wohlstand. In seinem Haus wurden Partys gefeiert, Lachs wurde aufgetragen und Champagner getrunken. Doch seither waren mehr als dreißig Jahre vergangen. Und spätestens mit Karlas Auszug hatten das Chaos und die Tristesse das Regiment in Helmuts Räumen übernommen. Besuchte Ben seinen Vater, verspürte er selbst bei Tag den irritierenden Drang, das Licht einschalten zu wollen. Manchmal schloss Helmut, einem schwachen Impuls gehorchend, den Staubsauger an, schob das brummende Ding für ein paar Minuten gelangweilt kreuz und quer durch die Räume. Bis er genug hatte, das Gerät wieder hinunter in den Keller trug, seine Lesebrille aufsetzte, sich in seinen Fernsehsessel fallen ließ und nach der Bedienung angelte.
    Helmuts Nasenspraykonsum hatte seither bedenkliche Ausmaße angenommen, überall standen oder lagen leere Sprühflaschen herum, trotzdem war seine Nase pausenlos verstopft. So hatte sein erlahmter Sinn für Reinlichkeit den zähen, einst ausdauerfähigen und stets dezent nach Old Spiceriechenden Sportsmann in einen müden, leicht reizbaren und von Dauerschnupfen geplagten Allergiker verwandelt.
    Im Erdgeschoss erklang, gedämpft vom Sturm und dem Prasseln des Regens auf die elektronisch ausstellbare Glasdachluke, das Jaulen des Kamins, in dem der Wind wühlte. Doch Helmut fühlte sich sicher in seinen vier Wänden, ein selbsternannter General in seiner Festung. Denn noch ahnte er nichts von der hinterhältigen Bedrohung in seiner Harnblase, die sich ihm bereits in den nächsten Tagen offenbaren sollte.
     
    S piralförmig wanden und drehten sich die Luftmassen über der Sechzigtausendseelenstadt und warfen die mitgeführten riesigen Wassermengen mit unerbittlicher Wucht über die in ein flackerndes Licht getauchten Häuser, Straßen und Plätze. Ganz Südhessen lag unter anhaltenden Regenschauern. Und wenn sich die elektrischen Ladungen Richtung Heidelberg verschoben und dort in Form Dutzender lilafarben gegabelter Blitze und mächtiger Detonationen entluden, war deren Knallen bis in Konrads Zimmer in Heppenheim zu hören, so als läge die ganze Region unter Mörserbeschuss. Manchmal schien es sekundenlang, als bebe der gesamte Trakt oder als stampften sämtliche Patienten der geschlossenen Männerstation M 3 gleichzeitig mit den Füßen auf dem Boden.
    Konrad krümmte sich auf seinem streng nach Schweiß und Urin riechenden Bett. In der spasmischen Haltung eines von Fieberschüben geschüttelten Kleinkindes lag er da, das Gesicht in das Kissen vergraben, die Kiefer ineinander verkeilt und die nikotingebräunten Finger beider Hände an die Schläfen gepresst. Mit flatternden Lidern versuchte er, dem unkontrollierbaren Zucken seiner Augäpfel standzuhalten, ausgelöstvon den 100 Milligramm Neurozil, die man ihm gegen seinen Willen verabreicht hatte. Immer wieder schlug er sich mit der linken, zur Faust geballten Hand gegen den Kopf, so als ließe sich dadurch der darin entstandene Wackelkontakt oder der durch eine schadhafte Neutronenverbindung verursachte Kurzschluss zwischen seinen Augen und dem Großhirn beheben.
    In seinen Händen spürte Konrad seinen eigenen rasenden Puls wie den
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