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Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit

Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit

Titel: Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit
Autoren: Gillian Shields
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schmerzhafter allein als zuvor. Der Junge, den ich liebte, war ein Mörder, ein wandelndes Gespenst, einer der Verdammten, und er war irgendwo da draußen und begann zu verblassen. Er war mein Feind.
      Ich war so unglücklich, dass es schmerzte. Als hätte man mir einen Stich mit einem Messer versetzt. Natürlich fühlte ich nichts; ich wollte nichts fühlen, nie wieder.
      »Evie, hörst du zu?« Helens Stimme riss mich aus meinen Gedanken.
      »Versuch es noch einmal, Evie«, bat Sarah. »Sie rücken näher; ich bin sicher, dass sie das tun. Du musst in der Lage sein, dich zu verteidigen!«
      Und eine andere ferne Stimme hallte über die Jahre hinweg in meinem Kopf wider, leicht und lebhaft: Finde deine Kräfte, meine Schwester, finde dich selbst.
      »Ich versuche es«, log ich. Ich hielt meine Hände über die Schüssel mit dem Wasser, schloss die Augen und begann zu singen.
      Wasser.
      Ein Tropfen, der von einem Blatt auf den Boden fällt. Der ferne Ozean, unvorstellbar riesig, so tief und dunkel wie der Raum zwischen den Sternen. Feiner Nebel, der am Morgen über den Moors hängt. Regen, der in die fruchtbare Erde sickert. Ein Gebirgsbach tost, während er sich in die Tiefe stürzt, dem Meer entgegen.
      Ich konnte das Wasser nicht im Geringsten befehligen, aber ich träumte von ihm. Der Traum, den ich in meiner ersten Nacht in Wyldcliffe gehabt hatte – der von einer großen Welle, die sich hoch auftürmte, um alles wegzuschwemmen – , verfolgte mich Nacht für Nacht. Und von der Minute an, da ich wach geworden war und mir im Badezimmer Wasser ins Gesicht gespritzt hatte, war ich mir bewusst gewesen, dass man unmöglich ohne Wasser leben konnte. Wasser des Lebens, reinige und erfrische uns … Undeutliche Erinnerungen an die Worte eines Liedes, das Frankie immer leise gesummt hatte, trieben aus meinem Gedächtnis nach oben. Jedes Mal, wenn ich im Speisesaal ein Glas lauwarmes Wasser getrunken hatte, hatte ich an die nutzlosen Informationsfetzen gedacht, die man aufnahm, ohne sie zu bemerken.
      Eine Tatsache: In einem einzigen Glas Wasser gibt es mehr Atome, als Gläser mit dem Wasser aller Meere auf der ganzen Welt gefüllt werden können. Alles, was ich tun musste, war den Hahn zu betätigen, um ein lebendes Wunder zu berühren.
      Weitere Tatsachen: Die Oberfläche der Erde besteht zu siebzig Prozent aus Wasser; ein Kind wächst im Mutterleib in einer mit Wasser gefüllten Blase heran; unsere Körper bestehen zum allergrößten Teil aus Wasser …
      Wasser. Die Welt. Ein Kind. Mein Körper. Meine Tränen.
      Wasser für Evie. Die alte Sehnsucht zu schwimmen überkam mich wieder, aber ich beachtete sie nicht. Ich schloss den Regen aus, den Nebel und die Träume. Du musst fühlen, hatte Helen gesagt, aber ich würde mich nicht verführen lassen. Ich wollte nicht fühlen. Mein Herz war so ausgewrungen und trocken wie ein Knochen, und ich würde dafür sorgen, dass das auch so blieb.
     

 Siebenundvierzig
 
 
      
      A lso, um was handelt es sich bei dieser Gedenkprozession jetzt genau?«, fragte ich. »Ist das wieder eine von diesen verrückten Wyldcliffe-Traditionen?«
      Es war ein kühler Dezemberabend, und wir standen im Stall und striegelten Bonny und Starlight. Sarah hörte auf, über Bonnys rotbraunes Fell zu streichen, und warf einen Blick in die nächste Box, um sich zu vergewissern, dass auch wirklich niemand dort war.
      »Sie ist für Lady Agnes«, sagte sie. »Am zwölften Tag des zwölften Monats, also an ihrem Todestag, muss sich jedes Mädchen der Schule bei Sonnenuntergang in der alten Ruine der Kapelle einfinden und für ihre Seele beten. Ich habe das Gefühl, dass die Lehrerinnen diese Prozession gern abschaffen würden, aber Lord Charles hat sie in seinem Testament zur Bedingung gemacht, als die Schule in die Abtei eingezogen ist. Also müssen sie sie in Kauf nehmen.«
      »Oh.« Damit hatte ich nicht gerechnet. Ein Teil von mir konnte immer noch nicht akzeptieren, dass Agnes tot war. Ich hatte ihr Gesicht, ihre Stimme, ihr Lächeln so oft wahrgenommen, dass sie inzwischen ein Teil von mir waren. Ich blinzelte und strich weiter über Starlights Schweif, während ich versuchte, meine Stimme fest klingen zu lassen. ?Nun, das ist gut, oder? Ihr Andenken zu ehren und so weiter.?
      »Ja, natürlich«, sagte Sarah. » Allerdings hat es vor ein paar Jahren einigen Ärger gegeben. Eines der jüngeren Mädchen ist hysterisch geworden und hat geschworen, dass sie
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