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Die 6. Geisel - Thriller

Titel: Die 6. Geisel - Thriller
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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»Jetzt muss ich erst mal noch einen anderen Besuch machen.«

10
    Ich verließ Claires Zimmer im fünften Stock und nahm die Treppe hinunter zur Kinder-Intensivstation im zweiten. Dabei machte ich mich auf eine Zeugenvernehmung gefasst, die mir zweifellos fürchterlich an die Nieren gehen würde.
    Ich dachte an den kleinen Tony Canello, der mit angesehen hatte, wie seine Mutter erschossen wurde, und einen Augenblick später selbst eine Kugel abbekommen hatte. Ich musste diesen Jungen fragen, ob er den Schützen irgendwann schon einmal gesehen hatte, ob der Mann irgendetwas gesagt hatte, bevor oder nachdem er die Pistole abgefeuert hatte, und ob ihm irgendein Grund einfiel, warum er auf ihn und seine Mutter geschossen haben könnte.
    Ich nahm meine Einkaufstüte von der rechten in die linke Hand, als ich die letzte Treppe hinunterstieg. Mir war bewusst, dass die Art, wie ich diese Befragung anging, sich dem kleinen Jungen für den Rest seines Lebens einprägen würde.
    Im Präsidium haben wir immer einen Vorrat an Teddybären als Geschenke für traumatisierte Kinder, aber diese kleinen Spielsachen schienen zu billig für ein Kind, das gerade Zeuge des brutalen Mordes an seiner eigenen Mutter geworden war. Bevor ich ins Krankenhaus gefahren war, hatte ich im Build-A-Bear-Workshop vorbeigeschaut, mir einen Bären eigens für Tony anfertigen und ihm ein Stoffherz in die Brust einnähen lassen, mit meinen besten Genesungswünschen für Tony. Anschließend war der Bär in ein Fußballtrikot gesteckt worden.
    Ich öffnete die Tür zum zweiten Stock und betrat den in Pastellfarben gestrichenen Flur der Kinderstation. Fröhliche Wandmalereien von Regenbogen und Picknicks zierten die Wände.
    Als ich die Intensivstation gefunden hatte, zeigte ich der
Schwester am Empfang, einer Frau in den Vierzigern mit angegrauten Haaren und großen braunen Augen, meine Dienstmarke. Ich erklärte ihr, dass ich mit einem Zeugen sprechen müsse und dass es nicht länger als ein paar Minuten dauern würde.
    »Sprechen Sie von Tony Canello? Dem kleinen Jungen, der auf der Fähre angeschossen wurde?«
    Ich sagte: »Ich habe ungefähr drei Fragen. Ich werde es ihm so leicht wie möglich machen.«
    »Ah, es tut mir leid, Lieutenant«, sagte die Schwester und sah mir unverwandt in die Augen. »Es war eine sehr riskante Operation. Die Schussverletzung hat mehrere lebenswichtige Organe in Mitleidenschaft gezogen. Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber wir haben ihn vor etwa zwanzig Minuten verloren.«
    Ich sank kraftlos gegen den Tresen der Schwesternstation.
    Die Schwester redete auf mich ein, fragte mich, ob sie mir etwas bringen oder jemanden holen sollte. Ich gab ihr die Tüte mit dem Teddy und bat sie, ihn dem nächsten Kind zu schenken, das in die Intensivstation eingeliefert wurde.
    Irgendwie fand ich meinen Wagen auf dem Parkplatz und fuhr zurück zum Justizgebäude.

11
    Das Justizgebäude ist ein grauer Granitwürfel, der einen kompletten Block in der Bryant Street einnimmt. Auf den zehn tristen und schäbigen Stockwerken sind der Superior Court, die Büros der Staatsanwaltschaft, die Southern Division des San Francisco Police Department sowie - im obersten Stock - ein Gefängnis untergebracht.
    Das Rechtsmedizinische Institut befindet sich in einem Nachbargebäude, aber durch eine Hintertür im Erdgeschoss kann man auch direkt vom Justizgebäude dorthin gelangen. Ich stieß die Glastür am anderen Ende der Eingangshalle auf und bog in die überdachte Passage ein, die zur Leichenhalle führt.
    Als ich die Tür des Sektionssaals öffnete, schlug mir eisige Luft entgegen. Ich marschierte einfach hinein, als ob der Laden mir gehörte - eine Angewohnheit, zu der mich meine beste Freundin Claire verleitet hat, die Leiterin der Rechtsmedizin.
    Aber natürlich war es nicht Claire, die auf einer Leiter stand, um die verstorbene Frau auf dem Tisch von oben zu fotografieren. Der stellvertretende Institutsleiter, ein ungefähr eins siebzig großer Weißer in den Vierzigern mit graumelierten Haaren und schwarzer Hornbrille, nahm ihren Platz ein.
    »Hallo, Dr. Germaniuk«, sagte ich, als ich in den Sektionssaal platzte.
    »Passen Sie auf, wo Sie hintreten, Lieutenant.«
    Humphrey Germaniuk hatte seit ungefähr sechs Stunden die Verantwortung für die Rechtsmedizin, und schon säumten seine Papiere in sauber aufgereihten Stapeln sämtliche Wände. Mit der Schuhspitze schob ich den Stoß, den ich gerade im Vorbeigehen gestreift hatte,
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