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Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)

Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)

Titel: Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
Autoren: Asfa-Wossen Asserate
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noch in der tropischsten Hitze nachmittags umzogen und einen Smoking anlegten, selbst wenn weit und breit kein Mensch zu sehen war. Die Aufmerksamkeit für sich selbst, das Bewahren von Haltung, wenn man sich in der Öffentlichkeit bewegt – das war noch bis vor kurzem in Deutschland gar keine Frage des Standes oder des Geldes, es war für Angehörige aller Schichten eine schiere Selbstverständlichkeit. Auf Bildern aus der Weimarer Republik sieht man die Arbeiter in Zylinder und Frack demonstrieren, und in Tübingen und Frankfurt habe ich es in den Jahren 1968 und danach noch selbst erlebt: Die Studenten, die sich auf der Straße unterhakten und Auge in Auge mit der Kette der ihnen gegenüberstehenden behelmten Polizisten ihre Protestrufe skandierten, trugen selbstverständlich Anzug und Krawatte. Und am Tag des Herrn legten Arbeiter und Bauern Sonntagsstaat an.
    Die Anmut darf nicht verwechselt werden mit der Schönheit, allenfalls lässt sie sich als «innere Schönheit» beschreiben. Für Friedrich Schiller war sie der Ausdruck der «schönen Seele». Denn man kann durchaus ohne einen wohlproportionierten Körper eine bella figura machen. Maria Callas – ich hatte das Glück, sie in London Ende der sechziger Jahre noch singen zu hören – erfüllte mit ihrer Stimme, ihrem Charme und ihrem Charisma jeden Saal. Sie besaß Anmut und Majestät, obwohl sie keine Schönheit im geläufigen Sinne war.
    Anmut ist zeitlos und hat nichts mit Jugend zu tun. Unter den großen deutschen Schauspielerinnen und Schauspielern haben mich besonders Elisabeth Flickenschildt und Curd Jürgens beeindruckt, die gerade im Alter eine besondere Anmut ausstrahlten. Aber auch in der Politik kann man auf sie stoßen – ich denke etwa an die Grande Dame der FDP Hildegard Hamm-Brücher oder den alten Konrad Adenauer. Eine majestätische Anmut ging auch vom letzten Kaiser Äthiopiens aus, der trotz seiner Körpergröße von nur einem Meter sechzig bei seinen Staatsbesuchen zwischen de Gaulle und Nasser herausragte. Und mit jedem neuen Jahr auf dem Thron wächst die Anmut von Queen Elisabeth, die gerade auf junge Menschen überall auf der Welt eine wohl einzigartige Faszination ausübt.
    In der griechischen Mythologie trägt Aphrodite, die Göttin der Schönheit, einen Gürtel, der die Kraft besitzt, dem, der ihn trägt, Anmut zu verleihen. Zu ihrer Huldigung kamen die drei Grazien. Der Gürtel der Anmut verliert auch bei den weniger Schönen nicht seine magische Wirkung. Das heißt aber auch: Man kann zwar ein wenig nachhelfen, sich schön anziehen und sich herausputzen, aber die Anmut stellt sich nicht zwangsläufig oder gar auf Befehl ein. Erst recht nicht, wenn man des Guten zu viel tut. Magie ist im Spiel. Anmutig ist ein Mensch, der sich seiner Schönheit überhaupt nicht bewusst ist. Zur Anmut gehören Beiläufigkeit, Ungekünsteltheit, Nonchalance, Sprezzatura; und wenn sie in Begleitung ihrer Schwester, der Demut, auftritt, ist sie unbesiegbar.
    Kein Wunder, dass die Italiener fest davon überzeugt sind, dass die Anmut bei ihnen beheimatet ist, ein jedes Kind kennt dort das Lied von der Mücke im Abendkleid: Era una zanzara in abito da sera/se l’era messo per far bella figura/e se ne volava intorno ad una culla/una culla bella con un fiocco rosa … (Es war einmal eine Mücke im Abendkleid, sie hatte es angezogen, um guten Eindruck zu machen, und sie schwirrte beständig um eine Wiege herum, eine hübsche Wiege mit einer rosa Schleife …). Und doch hat sie sich schon Petrarca im 14. Jahrhundert jenseits der Alpen offenbart, wo er nur «Barbaren» vermutete. Lässt sie sich vielleicht gar als eine deutsche Tugend betrachten? Jedenfalls findet man in der deutschen Geschichte zahlreiche Beispiele für ihr Wirken, ganz gleich, in welcher Epoche man sich um schaut.
    Im Jahr 1826 begann der bayerische Hofmaler Josef Stieler im Auftrag König Ludwigs I. mit den ersten Gemälden für dessen berühmte «Schönheitengalerie», die bis heute Schloss Nymphenburg schmückt. Inmitten der sechsunddreißig Münchner Schönheiten – darunter Gräfinnen und Prinzessinnen, aber auch Münchner Bürgerstöchter höheren und einfacheren Standes und die berühmt-berüchtigte Lola Montez, die dem König später zum Verhängnis wurde – ragt besonders eine hervor: die aus dem Chiemgau gebürtige Schusterstochter Helene Sedlmayr. Als Fünfzehnjährige kam sie nach München, wo sie eine Anstellung als Dienstbotin im Spielwarengeschäft des Kaufmanns
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