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Des Wahnsinns fette Beute: Macken und Marotten auf der Spur (German Edition)

Des Wahnsinns fette Beute: Macken und Marotten auf der Spur (German Edition)

Titel: Des Wahnsinns fette Beute: Macken und Marotten auf der Spur (German Edition)
Autoren: Cornelia Scheel , Hella von Sinnen
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nicht abstrakt auf die Kirche an und für sich bezogen, sondern ganz konkret, geradezu konkretistisch, wie die Psychiater sagen, verstanden. Und er hat die kleine verfallene Kapelle wieder aufgebaut. Hand aufs Herz! Wenn hier in der Nähe meines Krankenhauses morgen ein junger Mann, der in letzter Zeit immer wieder Krach mit seinem Vater gekriegt hat, Stein für Stein eine alte Kapelle wieder aufbauen würde, die ihm gar nicht gehört, Polizei würde kommen und fragen, was er denn da so mache, und er würde den Beamten mit strahlendem Lächeln erzählen, dass er gerade eine Stimme vom Kreuz gehört habe, die ihm das befohlen habe, dann hätten wir wahrscheinlich bald wieder ein belegtes Bett – oder auch nicht. Denn ich persönlich finde, dass Franz von Assisi nicht die Bohne schizophren war. Die Psychiatrie wäre nie erfunden worden, wenn es nur Leute wie Franz von Assisi gegeben hätte. Der Mann hat gewiss außergewöhnliche Erlebnisse gehabt, aber das ist lange noch nicht krank. Denn er hat darunter nicht gelitten und war auch nicht in seiner Kommunikation mit anderen Menschen gestört, wie das bei Kranken eher die Regel ist. Ganz im Gegenteil! Franz von Assisi hat Tausende von jungen Leuten begeistert bis in unsere Tage hinein. Er war hochkompetent und verfügte über außergewöhnliche kommunikative Fähigkeiten. Unsere psychiatrischen Begriffe sind erfunden worden, weil Menschen gelitten haben. Menschen, die gelitten haben, sind zu uns gekommen, und wir haben diese Worte erfunden, «Schizophrenie », «Depression», «Manie» und was weiß ich alles, um Therapien für diese leidenden Menschen zu organisieren. Diagnosen haben nur den Sinn, Therapien zu organisieren. Daran muss man manchmal auch junge Kollegen erinnern, weil es unter Psychos leider üblich ist, Diagnosen auch auf Leute anzuwenden, die bei einem gar keinen Krankenschein abgegeben haben, insbesondere auf Kollegen. Das ist natürlich ein Missbrauch von Diagnosen. Diagnosen sind nur für leidende Menschen erfunden worden. Wenn man also auf alle möglichen farbigen und schrillen Typen, auf Sie, auf mich, auf jeden irgendwelche Diagnosen anwendet, um die alle sozusagen fein säuberlich in eine Schublade zu stecken, dann ist das ein Missbrauch der Psychiatrie! Ich finde, dass Menschen natürlicherweise außergewöhnlich sind. Aber die Tyrannei der Normalität, von der ich in meinem Buch spreche, führt tatsächlich dazu, dass jeder seine kleinen Macken versteckt, weil er denkt, da kommt irgend so ein Psycho um die Ecke und macht da schnell noch eine Diagnose draus. Doch so etwas wäre inkompetente Psychiatrie. Ich laufe auch nicht durch mein Privatleben und diagnostiziere in der Gegend rum. Wer das als Psychiater tut, der hat – mit Recht – bald keine Freunde mehr.
     
    Jaja, jetzt gibt es ja begriffliche Unterschiede. Wenn wir jetzt mal von Marotten sprechen: Wir haben gestern gegoogelt: Marotte ist die französische Verniedlichung von MARIA und die Bezeichnung für eine auf einem Stab angebrachte Puppe. Früher hat der Narr, der hat so einen kleinen Stab vor sich rumgetragen, und heute sagt man: «Der hat eine Marotte!» Also eine Marotte ist ja nichts zum Diagnostizieren, sondern eine lustige Angewohnheit.
     
Ja, eine eigenartige Eigenart.
     
    Ja, oder Eigenart, die aber eben manchmal dann auch kippen kann, sag ich mal. Bei Menschen, die überhaupt nichts wegschmeißen können, haste plötzlich ein Messie-Problem. Wann weiß ich, wenn wir jetzt 20, 30 Leute interviewen, oha, der Kollege hat aber ein ernstes Problem, den schicke ich mal zum Dr.   Lütz? Woran erkenne ich, ach, das ist noch eine nette Marotte? Ist das nur mit dem Leidensbegriff zu unterscheiden?
     
Ich glaube ja. Ich glaube, das Leiden ist das Entscheidende. Und wenn man anfängt, das zu vergessen, dann beginnt man die ganze Gesellschaft in Schubladen zu sperren. Das ist in totalitären Diktaturen zum Beispiel der Fall. Also Leute, die nicht passen, die werden dann passend gemacht. In der Sowjetunion zum Beispiel. Die haben eigentlich gar nicht gelitten, die litten dann höchstens unter der Behandlung, aber nicht unter ihrer Eigenart.
     
    Aber was ist denn, wenn ich eine Marotte habe, und ich fühle mich pudelwohl, aber mein Umfeld, also meine engeren Menschen, leiden darunter?
     
Das kann noch ganz im grünen Bereich sein, wenn Sie ein merkwürdiges Umfeld haben. Dann kann es eine gute Idee sein, mal das Umfeld zu wechseln. Aber wenn Sie merken, es gibt gar kein Umfeld
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