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Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass

Titel: Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass
Autoren: Umberto Eco
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gegeben. Sofri wurde und wird noch immer zynisch als Keil benutzt, um die Richterschaft auseinanderzutreiben; seine Begnadigung soll andere Begnadigungen nach sich ziehen und eine Reihe von Strafprozessen aus den Angeln heben. Die Beweisführung, daß der Prozeß Braibanti fehlerhaft war, zielte keineswegs darauf ab, die Richtigkeit von Strafprozessen überhaupt in Frage zu stellen; sie sollte nur zeigen, daß dieser bestimmte Prozeß unter Mißachtung aller juristischen Regeln geführt worden war, und das ist etwas ganz anderes.
    Was tut man in einer zivilen Gesellschaft? Man tut das, was Zola für Dreyfus getan hat, indem man den Prozeß unter die Lupe nimmt, was das Recht und die Pflicht einer nicht-hysterischen Öffentlichkeit ist. Genau das hatte Carlo Ginzburg nach dem Urteil von 1990 getan. Und darum ist es viel wichtiger, sein Buch zu lesen oder wiederzulesen und lange Auszüge daraus in Zeitungen und Zeitschriften abzudrucken, als immer neue Aufrufe zu unterschreiben. Auch wenn Ginzburg am Anfang des Buches sehr ehrlich seine Überzeugungen dargelegt hatte (wir könnten fast sagen: die Schwäche seiner Überzeugungen), indem er betonte, daß der erste Beweggrund, aus dem er das Buch geschrieben habe, seine persönliche Freundschaft mit Sofri war, argumentierte er dann im weiteren nicht mehr emotional, sondern analysierte nüchtern und sachlich die Aussagen, Verhöre, Indizien, Beweise und Gegenbeweise, und wer das Buch gelesen hatte, mußte sich über jenen Indizienprozeß schon sehr wundern, denn die Indizien waren nach einem ziemlich beunruhigenden Prinzip bewertet worden: Alle entlastenden Zeugenaussagen oder Indizien waren verworfen worden, wenn sie nicht mit den Aussagen des Kronzeugen der Anklage übereinstimmten.
    Aber Ginzburg tat noch mehr: Er verglich die von den Richtern benutzten Interpretationsmethoden mit denen, die ein seriöser Historiker beim Prüfen und Bewerten seiner Zeugnisse anwenden müßte. Er war skeptisch genug, nicht zu erwarten, daß die beiden Vorgehensweisen in jedem Punkt koinzidieren würden, und das hat er auch nicht verschwiegen. Aber was am Ende herauskam, war eine beunruhigend krasse Unvereinbarkeit zwischen den Vorgehensweisen einer seriösen Geschichtsforschung und denen, die im Prozeß und in der Urteilsbegründung angewandt worden sind.
    Deswegen habe ich eingangs von der Bedeutung einer logischen Analyse der Argumente der Holocaust-Leugner gesprochen. Es gibt eine Analogie zwischen den Argumenten, die beweisen sollen, daß ein Verbrechen nicht stattgefunden habe, und denen, die beweisen sollen, daß es stattgefunden habe, nämlich ihre argumentative Schwäche. In manchen Fällen muß man, was Rechtsgarantien betrifft, nicht nur die Rechte der Angeklagten oder der Opfer schützen, sondern mehr noch die Rechte, ich sage gar nicht der Vernunft, sondern bloß des gesunden Menschenverstandes. Mir scheint, daß die Argumente, die im Prozeß Sofri benutzt worden sind, gegen den Common Sense verstoßen.
    Offensichtlich ist die Lektion, die aus Ginzburgs Buch hervorgeht, nicht genügend beachtet worden. Also bleibt nur eines zu tun: in der gleichen Richtung weiterzugehen. Wie ich höre, hat ein Verlag die Absicht, die ganze Ur-teilsbegründung zu veröffentlichen. Ich weiß nicht, ob er sie wirklich in voller Länge drucken will, denn das ergäbe ein Buch von abschreckendem Umfang. Aber sicher ist dies der richtige Weg und die einzige Gnade, auf die die Verurteilten hoffen können, auch wenn sich das Ganze dadurch noch länger hinzieht. Man muß sich entscheiden, ob man Gerechtigkeit und Rechtsgarantien haben oder sein gutes Herz unter Beweis stellen will. Ich für meinen Teil habe noch nie erlebt, daß eine Ungerechtigkeit durch gutes Herz wiedergutgemacht worden ist, nicht einmal im Falle des reuigen Diebes, der seine Beute zurückgibt. Nein, man muß auf Ginzburgs Weg weitergehen: die Öffentlichkeit zu der Einsicht bringen, daß der Prozeß neu aufgerollt werden muß.
    PS: Mir fehlt einfach die »moralische« Überzeugung, daß der Prozeß korrekt geführt worden ist. Ich formuliere eine Hypothese, die ich auf Basis der mir bekannten Prozeßdaten für vernünftig halte. Aber ich kann nicht so tun, als ob meine Reaktion auf die mir bekannten Daten nicht auch in gewisser Weise von einem Vor-Urteil gelenkt würde. Auch wenn ich keine emotionalen Vorurteile habe, bin ich nicht frei von rationalen. Das ist kein Oxymoron, es gibt durchaus rationale Vorurteile: Jeder, der etwas
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