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Der Zwergenkrieg

Der Zwergenkrieg

Titel: Der Zwergenkrieg
Autoren: Kai Meyer
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wartet«, sagte Löwenzahn schwerfällig. »Die Nordlinge sind zweimal auf Wasser gestoßen, nicht wahr? Das da« – er zeigte auf den Stollen mit dem schwächeren Rinnsal – »kommt aus der Moosgrotte.« Er drehte sich um zu dem anderen Stollen, aus dem der Bach strömte. »Woher aber stammt dann dieses Wasser?«
    »Mir fällt nur eine Möglichkeit ein«, meinte Mütterchen und horchte zugleich auf den Lärm der Nordlinge. Der Fels verzerrte das Echo, es war unmöglich zu sagen, wie nahe sie bereits waren.
    Alberich wurde immer unruhiger. »Sie sind mit den Bohrern zu weit nach Westen vorgestoßen, außerdem viel zu weit nach oben.« Er verzog das Gesicht zu einem grimmigen Lächeln. »Weil sie keine Ahnung von dem haben, was sie tun.«
    »Zu weit nach Westen«, wiederholte Geist leise, »zu weit nach oben. Heißt das, am Ende dieses Stollens fließt …«
    »Der Rhein«, führte Mütterchen den Satz zu Ende.
    »So, wie es aussieht, hat nicht viel gefehlt, und unsere Freunde hätten den ganzen Tunnel unter Wasser gesetzt.«
    Und alle, sogar Löwenzahn, hatten plötzlich den gleichen Gedanken.
    Geist huschte ganz allein durch die Halle der Minenbohrer, vorbei an den Reihen der schlummernden Kolosse. Sie fürchtete sich beim Anblick dieser bedrohlichen Monstrositäten (oder blickten vielmehr
sie
auf Geist?), und es hätte sie kaum verwundert, wären sie mit einem Mal reihum zum Leben erwacht, um Jagd auf sie zu machen.
    Sie erreichte das Portal der Halle, ohne aufgehalten zu werden, nicht von Nordling, Zwerg oder Bohrungetüm. Noch einmal schaute sie zurück über den breiten Gang zwischen den Bohrern, zerfurcht von Rädern, die so hoch waren wie Geist selbst. Ein sonderbares Gefühl beschlich sie, die Vorstellung, dass all dies zweihundert Jahre lang unberührt dagestanden hatte und dabei doch so aussah, als wartete es nur darauf, erneut mit Leben erfüllt zu werden.
    Sie schüttelte sich, als eine Gänsehaut unter ihren Moospelz kroch. Mit einem Blinzeln, um sich vom geisterhaften Bild der verlassenen Halle zu befreien, warf sie sich herum und sprang durch das offene Tor. Die riesigen Flügel waren aus Stein und ließen sich nur mit Hilfe eines komplizierten Zwergenmechanismus bewegen. Eine eiserne Kurbel an der Außenseite musste betätigt werden, um ihn in Gang zu setzen.
    Geist war überrascht; nach all der Zeit war die Eisenkurbel weder eingerostet noch verkantet. Sie musste dennoch all ihre Kraft einsetzen, um den Hebel zu drehen. Tief im Felsen setzten sich mit einem Knirschen, gefolgt von leisem Surren, gewaltige Zahnräder in Bewegung. Langsam, sehr langsam, schoben sich die gewaltigen Steinflügel aufeinander zu. Erst als nur noch ein Spalt offen stand, gerade breit genug, um Löwenzahns Schultern hindurchzulassen, brachte Geist das Portal zum Stillstand.
    Sie trat in den Spalt, schaute zur Stollenöffnung auf der anderen Seite und lauschte. Auf Stimmen vielleicht; auf das Kampfgeschrei der Nordlandkrieger; auf das Donnern einer Wasserflut.
    Doch da war nur Stille, das eherne Schweigen der Minenbohrer, träumend von den glanzvollen Zeiten des Zwergenvolkes. Eine Stille, beängstigender als jeder Feind. Und in einem Moment vollkommener Klarheit erkannte Geist, dass es genau das war, was sie in den vergangenen zwei Jahren so gefürchtet hatte und doch jetzt erst völlig verstand: Die Stille, das lautlose Sterben dieses uralten Berges, war vielleicht der schlimmste Feind von allen.
    Alberich saß in einer Schneise im Holzbuckel des Minenbohrers und legte einen Hebel um, der halb so groß war wie er selbst. Irgendwo im Inneren des Ungetüms löste sich eine Sperre.
    »Jetzt!«, rief er über die Schulter nach hinten. »Du musst schieben!«
    Löwenzahn knurrte etwas, doch der Lärm der Nordlinge, die hinter ihnen den Stollen heraufströmten, übertönte seinen Fluch. Mit all seiner Kraft stemmte er sich gegen die Rückseite des Bohrers, und Mütterchen glaubte das Anschwellen seiner riesenhaften Muskelberge sogar durch seine dicke Fellkleidung zu erkennen.
    Sie selbst stand hinter ihm, mit gezücktem Schwert, um ihm den Rücken von Angreifern freizuhalten. Unruhig, gespannt bis in die Zehenspitzen, blickte sie zurück zur letzten Biegung des spiralförmigen Stollens. Das Wasser umspülte ihre Füße bis zu den Knöcheln, das Rauschen wurde von den Felswänden zurückgeworfen. Sie war zu schwach, um Löwenzahn beim Schieben des Minenbohrers zu helfen. Irgendetwas aber wollte auch sie beitragen, und wenn es nur
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