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Der Zusammenbruch

Der Zusammenbruch

Titel: Der Zusammenbruch
Autoren: Emile Zola
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stattgefunden; die Auskünfte, die überallher von den Märkten und Messen kommen, beweisen uns, daß die Grenze bedroht wird; und wenn die Einwohner, die Ortsvorsteher in ihrer Angst zu den Offizieren laufen, um ihnen zu erzählen, was vorgeht, zuckendie die Achseln: leere Einbildungen von Feiglingen, der Feind ist weit ... Was? während wir keine Stunde verlieren sollten, gehen Tage und abermals Tage hin! Was haben wir nun zu erwarten? Daß uns ganz Deutschland über den Hals kommt!«
    Er sprach mit leiser, trostloser Stimme, als ob er diese Geschichten sich selbst wieder vorerzählte, nachdem er lange drüber nachgedacht hätte.
    »Ach! Deutschland kenne ich ja auch; und das Schrecklichste ist, daß ihr alle es scheinbar so wenig kennt wie China ... Du erinnerst dich doch noch meines Vetters Günther, Maurice, des jungen Mannes, der im letzten Frühling nach Sedan kam, um mich zu begrüßen. Er ist mein Vetter mütterlicherseits; seine Mutter ist eine Schwester von meiner und hat sich nach Berlin verheiratet; da hinten sitzt er, voll Haß gegen Frankreich. Er steht jetzt als Hauptmann in der preußischen Garde ... Ich höre ihn noch, wie er mir an dem Abend, als ich ihn zur Bahn brachte, mit seiner schneidenden Stimme zurief: ›Wenn Frankreich uns den Krieg erklärt, wird es geschlagen.‹«
    Da mit einemmal sprang der Leutnant Rochas, der bis dahin an sich gehalten hatte, wütend vorwärts. »Zum Donnerwetter! was soll das heißen, daß Sie uns hier die Leute flau machen!«
    Jean, der sich nicht in den Kram mischen wollte, fand doch, daß er recht habe. Wenn er sich auch anfangs über die lange Verzögerung und die Unordnung gewundert hatte, in der sich alles befand, so zweifelte er doch keinen Augenblick daran, daß die Preußen eine fürchterliche Tracht Hiebe kriegen würden. Das war sicher, deswegen waren sie doch nur gekommen.
    »Aber Herr Leutnant,« entgegnete Weiß auf diese Unterbrechung, »ich will doch niemand flau machen ... Im Gegenteil, ich wollte, alle Welt wüßte, was ich weiß; denn es ist doch das beste, daß man alles weiß, um sich in acht nehmen zu können ... Und sehen Sie mal, dies Deutschland ...«
    Und er fing wieder an, in seiner verständigen Weise seine Befürchtungen zu erklären: Preußens Vergrößerung nach Sadowa, die volkstümliche Bewegung, die es an die Spitze der übrigen deutschen Staaten brachte, das ganze weite, in Neubildung begriffene Reich, verjüngt, mit dem begeisterten, unwiderstehlichen Antrieb, sich seine Einheit zu erstreiten; die Einrichtung der allgemeinen Wehrpflicht, die das Volk in Waffen bedeutete, das gut unterrichtet, voller Manneszucht, mächtig ausgerüstet, auf den großen Krieg eingedrillt war, noch ruhmbedeckt von seinem zerschmetternden Sieg über Osterreich; die geistigen Fähigkeiten, die sittliche Kraft eines solchen von fast lauter jungen Führern befehligten Heeres, das einem Oberbefehlshaber gehorchte, der die Kriegskunst erneuern zu wollen schien, klug und von vollkommener Voraussicht, einem geradezu wunderbar klaren Verstand. Und diesem Deutschland wagte er dann noch einmal Frankreich gegenüberzustellen: das altersschwache Kaisertum, durch das Plebiszit noch einmal gestärkt, aber an der Wurzel verfault, das jeden Gedanken an ein gemeinsames Vaterland durch Zerstörung der Freiheit geschwächt hatte, zu spät und nur um seinen eigenen Untergang zu erleben, wieder liberal geworden war, bereit zu zerfallen, sobald es die von ihm selbst entfesselte Genußsucht nicht mehr befriedigen konnte; das Heer, gewiß erfüllt mit dem bewundernswerten Mut seiner Rasse, überladen mit den Lorbeern der Krim und Italien, aber durch Stellenkauf verdorben, in der afrikanischen Schule stecken geblieben,zu siegesgewiß, um sich mit neuer Wissenschaft abzugeben; die Generäle schließlich großenteils mittelmäßig, sich in Eifersüchteleien verzehrend, einzelne von erstaunlicher Unwissenheit; und der kaiserliche Dulder an seiner Spitze zaudernd, durch sich selbst und andere über das beginnende schreckliche Abenteuer getäuscht, in das alle sich blind, ohne ernsthafte Vorbereitung hineinstürzten, mit der Bestürzung und der sinnlosen Hast einer zum Schlachthaus geführten Herde.
    Rochas hörte mit weitaufgerissenen Augen und offenem Munde zu. Seine ungeheure Nase zuckte. Dann brach er plötzlich in ein Lachen aus, ein ungeheures Lachen, das ihm die Kinnbacken zu zerbrechen drohte.
    »Was Sie uns da alles vorplarren! Was sollen denn all diese Dummheiten
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