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Der Zug war pünktlich

Der Zug war pünktlich

Titel: Der Zug war pünktlich
Autoren: Heinrich Böll
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Fenster hinausguckt.
    »Nein«, sagt der freundlich, »aber er!« Er deutet auf den Unrasierten. »Er hat eine Karte. Wie unruhig er schläft. Er hat was auf dem Herzen. Das ist ein Mensch, der etwas Furchtbares auf dem Herzen hat, sage ich dir …«
    Er blickt schweigend an der Schulter des Blonden vorbei hinaus. »Radebeul«, sagt eine sächsisch sonore Stimme.
    Eine brave Stimme, eine gute Stimme, eine deutsche Stimme, die ebensogut sagen würde: Die nächsten zehn-tausend ins Schlachthaus, bitte …
    Es ist wunderbar draußen, fast noch sommerlich, Sep-temberwetter. Bald werde ich sterben, diesen Baum dahin-ten, diesen rotbraunen Baum vor dem grünen Haus dahin-ten werde ich nie mehr sehen. Dieses Mädchen mit dem Fahrrad an der Hand, in dem gelben Kleid unter dem schwarzen Haar, dieses Mädchen werde ich nie mehr sehen, nichts mehr werde ich sehen von alledem, an dem der Zug vorbeirast …
    Der Blonde ist jetzt auch eingeschlafen, er hat sich neben den Unrasierten gehockt, sie sind im Schlaf aneinan-dergesunken, der eine schnarcht rauh und heftig, der andre sanft und pfeifend. Der Gang ist ganz leer; nur manchmal 22

    geht einer zum Klo, und manchmal sagt einer: »Drin ist doch noch Platz, Kumpel.« Aber es ist viel schöner auf dem Flur, auf dem Flur ist man mehr allein, und nun, wo die beiden anderen schlafen, ist er ganz allein, und es war eine prächtige Idee, die Tür mit Draht zu verschließen.
    Alles, was der Zug hinter sich läßt, lasse auch ich endgültig hinter mir, denkt er. Nichts mehr, nichts mehr werde ich sehen, nicht mehr diesen Sektor des Himmels, der voll ist von sanften graublauen Wolken, nicht mehr diese kleine, sehr junge Fliege, die am Rande des Fensters sitzt und nun wegfliegt, irgendwohin nach Radebeul; ach, diese kleine Fliege wird wohl in Radebeul bleiben … sie wird unter diesem Himmelssektor bleiben, und niemals wird mich diese Fliege begleiten bis zwischen Lemberg und Czernowitz. Die Fliege fliegt nach Radebeul hinein, vielleicht fliegt sie irgendwo in eine Küche, wo der dumpfe Geruch von Pellkartoffeln hängt und die billige Schärfe von schlechtem Essig und wo sie jetzt Kartoffelsalat machen für irgendeinen Soldaten, der sich drei Wochen quä-
    len darf an der scheinbaren Freude des Urlaubs … nichts mehr werde ich sehen, denn nun macht der Zug eine riesige Schleife und fährt auf Dresden zu.
    In Dresden ist der Bahnsteig sehr voll, und in Dresden steigen viele aus. Das Fenster hält vor einem ganzen Knäuel Soldaten, an deren Spitze ein dicker, rotgesichti-ger, junger Leutnant steht. Die Soldaten sind alle ganz neu eingekleidet, und auch der Leutnant ist ganz neu in seinem Konfektionsanzug für Todeskandidaten; auch die Orden auf seiner Brust sind so neu wie frischgegossene Bleisol-daten, sie sehen wahnsinnig unecht aus. Der Leutnant packt den Griff der Tür und rappelt daran.
    »Machen Sie doch auf«, schreit er Andreas an.
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    »Die Tür ist zu, es geht nicht«, schreit Andreas zurück.
    »Schreien Sie mich nicht an, machen Sie auf, machen Sie sofort auf.«
    Andreas schließt den Mund und blickt finster den Leutnant an. Ich werde bald sterben, denkt er, und er schreit mich an. Er blickt an dem Leutnant vorbei irgendwohin; die Soldaten, die bei dem Leutnant stehen, grinsen hinter dessen Rücken. An ihnen sind wenigstens die Gesichter nicht neu, sie haben alte, graue, wissende Gesichter, nur ihre Uniformen sind neu, und bei ihnen wirken sogar die Orden alt und abgeschlissen. Nur der Leutnant ist von oben bis unten neu, er hat sogar ein nagelneues Gesicht.
    Seine Wangen werden noch röter und seine blauen Augen werden auch ein bißchen rot. Er spricht jetzt leiser, ganz furchtbar leise, so drohend leise, daß Andreas lachen muß.
    »Machen Sie die Tür auf?« fragt er. Die Wut platzt ihm aus den blanken Knöpfen. »Sehen Sie mich wenigstens an«, brüllt er Andreas zu. Aber der sieht ihn nicht an. Ich werde bald sterben, denkt er, alle diese Menschen, die hier auf dem Bahnsteig stehen, werde ich nicht mehr sehen, keinen davon. Auch diesen Geruch wird er nicht mehr riechen, diesen Geruch von Staub und Eisenbahnqualm, der hier an seinem Fenster durchsetzt ist von dem Geruch der nagelneuen Uniform des Leutnants, die nach Zellwolle riecht.
    »Ich lasse Sie verhaften«, brüllt der Leutnant, »ich werde Sie dem Streifenführer melden!«
    Es ist ein Glück, daß der Blonde erwacht ist. Er steht mit verschlafenem Gesicht am Fenster, nimmt tadellose Hal-tung an und sagt zu dem
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