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Der zehnte Planet

Der zehnte Planet

Titel: Der zehnte Planet
Autoren: Sergej Beljajew
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allgemeine Anerkennung gefunden hatten, hielt er es für seine Pflicht, seine Kenntnisse der Jugend zu vermitteln. Unermüdlich wiederholte er in volkstümlichen Büchern, daß die Bekanntschaft mit der Astronomie für jeden unerläßlich sei, der seinen geistigen Horizont erweitern und sich über die Stellung des Menschen im Weltall im klaren sein will.
    Heute mußte der Gelehrte für eine volkstümliche Zeitschrift einen Artikel verfassen: »Was wissen wir vom Sonnensystem?« Er wollte diese indirekte Unterhaltung mit der Jugend möglichst warm und originell beginnen. Er wußte um die bezaubernde Kraft poetischer Strophen, und die ihm liebsten Gedichtbände hatte er stets bei der Hand. Das Buch des tschechischen Dichters Boleslav Lutschenek aufschlagend, las er die ihm gefallenden Zeilen:
    Ich bin ein Träumer. Ich entsinne mich,
    Wie einst ich sah die Stadt, die zu erreichen
    So lange ich ersehnt mit Leidenschaft.
    Sie lag im Tal, geheimnisvoll verborgen;
    Die spitzen Türme aber in der Ferne
    Erglänzten plötzlich durch die Wolken, die
    Zerrissen waren von der grellen Sonne.
    Bald wurd’ der Nebel dichter,
    Und für immer nun verschwand die Stadt,
    Umhüllt vom Dunkel! Lebe wohl! Ich freue mich
    Und bin beglückt, dich einen Augenblick
    Erschaut zu haben!
    Der Gelehrte seufzte, fing an zu schreiben und war bald ganz in seine Arbeit vertieft. Er schrieb, daß der Wissenschaft neun große Planeten bekannt sind und etwa zweitausend kleine, Asteroiden genannt. Alle diese Himmelskörper drehen sich in derselben Richtung wie die Sonne.
    »Die Größe der Planeten«, schrieb der Gelehrte, »ist unendlich klein im Verhältnis zur Sonne und zu den Entfernungen, die sie trennen. Stellen wir uns unsere Sonne verkleinert, etwa in der Größe einer Kirsche vor. Dann würden unsere Planeten wie feinste Stäubchen erscheinen. Das Erde-Stäubchen müßte man dann von der Sonne-Kirsche in einer Entfernung von einem Meter placieren und das Stäubchen — den neunten Planeten Pluto — vierzig Meter weit. Wenn wir in demselben Maßstab die Entfernung zwischen der Sonne und dem nächsten Fixstern zeigen wollen, so müßten wir die zweite Kirsche 270 Kilometer weit entfernt unterbringen.«
    In Gedanken versunken, hatte der Gelehrtenicht gleich begriffen, daß draußen vor dem Fenster irgendwelche sonderbaren Laute erschollen: als ob sich eine Jazzband, ihre Instrumente stimmend, direkt den Fenstern näherte.
    »Was ist das?« murmelte der Gelehrte.
    Er steckte den Bleistift in die Tasche, ging zum Fenster und zog die Vorhänge zurück. Eine dichte Finsternis ließ die Fensterscheiben schwarz erscheinen, als ob sie absichtlich mit Tinte bestrichen wären. Der Gelehrte lehnte sein Gesicht an die kalten Scheiben. In demselben Augenblick zuckte ein blendendes Licht auf, gleich dem blitzartigen Schein von Meteoren. Für die Dauer einer Sekunde wurde alles hell beleuchtet, was die undurchdringliche Finsternis sonst verbarg.
    Wie an einem sonnigen Mittag sah der Gelehrte ganz deutlich den bekannten Hof des Instituts und das prächtige Gebäude des Observatoriums mit seiner breiten Kuppel, die nackten Baumkronen und weiter unten die einzigartigen Konturen seiner Vaterstadt. Gleich hier unter dem Fenster sah er den nassen Asphalt des kleinen Platzes, einen Teil der Auffahrt und die grünliche Silhouette eines kleinen, einer Zigarre ähnelnden Autos. Und wieder versank alles im Dunkel. Verblüfft durch diesen überraschendenVorgang, fuhr der Gelehrte zurück und zog die Vorhänge ruckartig zu. Er versuchte mit Anstrengung seiner wieder Herr zu werden und streckte langsam seine sonderbar erstarrten Finger. Das Chronometer zeigte 11 Uhr 44.
    Hinter dem Rücken des Gelehrten ging die Tür auf, und jemand trat in das Arbeitszimmer.
    »Sind Sie es, Tatjana Jurjewna?« fragte der Gelehrte, ohne sich umzusehen. Er war noch beherrscht von der soeben erlebten Erregung.
    »Nein, das bin ich«, antwortete eine unbekannte Stimme. Der Gelehrte drehte sich rasch herum.
    »Wer? Wer sind Sie?«
    Im Halbdunkel des Arbeitszimmers stand, sich als schwacher Umriß auf dem Hintergrund der Tür abzeichnend, ein wohlgestalter großer Mann.
II
    »Verzeihung!« sagte der Eingetretene höflich. »Hier ist es furchtbar dunkel. Kein Wunder, daß Sie mich nicht erkannt haben, Michail Sergejewitsch. Ich bin es, Jura . . .«
    Wahrscheinlich hatte der Mann den Schalter angedreht, weil nun das Licht des Kronleuchtersdas Arbeitszimmer erhellte, und schöne Lichtreflexe
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