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Der Zauberspiegel

Der Zauberspiegel

Titel: Der Zauberspiegel
Autoren: Lynn Carver
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nun war Juliane sicher, dass es sich um Gold handelte. Nur echtes Gold besaß ein derartiges Gewicht. Vermutlich war der Klunker am Griff dann ebenfalls wertvoll. Sie musste das Teil loswerden, immerhin gehörte es jemandem.
    Ja, ja!, triumphierte eine telepathische Stimme.
    Juliane stutzte und wischte sich die feuchte Hand am Shirt ab. Wer war das? Der Ober zwinkerte ihr zu, als sie mit der Dose winkte und den Speisewagen verließ. Die Frau musste sich in diese Richtung entfernt haben. Wenn sie sich beeilte, konnte sie der Fremden ihr Eigentum zurückgeben.
     
    Eine halbe Stunde später hatte sie die Abteile das zweite Mal erfolglos durchsucht. Juliane stopfte den Spiegel in ihren Rucksack. Ihre Hilfsbereitschaft erschöpfte sich. Sie konnte unmöglich weiter im Zug herummarschieren. Niemeyer flippte garantiert aus, wenn sie noch eine Minute länger verschwunden blieb.
    Vor sich hin grummelnd setzte sie sich auf ihren Platz und trank die Cola aus. Was sollte sie mit dem Spiegel anfangen?
    Er gehört dir.
    Juliane zuckte zusammen. Sie blickte sich um, doch bis auf Niemeyer und sie war das Abteil leer. Dennoch empfing sie die Gedanken eines anderen. Wurde ihre Fähigkeit stärker?
    Juliane, Juliane!
    Sie runzelte die Stirn. Woher kam diese Stimme? Wer rief sie auf diese Weise? Niemand wusste von ihrer Begabung. Nicht einmal ihre Schwestern.
    Du weißt, wer ich bin.
    »Nein, weiß ich nicht«, flüsterte Juliane.
    Plötzlich fühlte sie sich, als würde sie aus sich hinaustreten und alles wie eine unbeteiligte Zuschauerin betrachten. Ihr Körper bewegte sich zielstrebig auf ihren Rucksack zu.
    Mit einem Mal wusste Juliane, was sie da rief: der Spiegel. Das kleine, protzige Accessoire war nicht das, was es zu sein schien. Eine geheimnisvolle Macht zwang sie, ihren Rucksack zu nehmen und das Abteil zu verlassen. Sie hatte keine Kontrolle über ihren Körper. Niemeyer rief ihr etwas hinterher, doch sie verstand ihn nicht.
    Bitte, nicht! Gib mich frei!, bat Juliane stumm, während sie die Tür der Zugtoilette hinter sich schloss und den Spiegel hervorholte.
    Es geschieht, was geschehen muss, sang die Stimme und vereinigte sich mit unzähligen anderen. Seit langer Zeit ist es beschlossen, Juliane!
    »Lass mich in Ruhe! Was willst du von mir?«, flüsterte Juliane mit einem Kloß in der Kehle. Ihre Nerven vibrierten und sie zitterte. Trotzdem tat sie unter dem Einfluss des Spiegels, was ihr am meisten widerstrebte: Sie streckte die Hand aus, berührte erst mit den Fingerkuppen und schließlich mit der ganzen Handfläche den Spiegel.
    Erst jetzt fiel die Anspannung von ihr ab und sie fühlte die Tränen auf ihren Wangen. »Was willst du?«
    »Deine Bestimmung erwartet dich, Juliane!« Diesmal sprach die Stimme des Spiegels zu ihr. Juliane drängte sich bei dem Klang der Vergleich mit einer silbernen Glocke auf.
    »Habe keine Angst, dir wird nichts geschehen.« Mit diesen Worten umhüllte sie ein gleißendes Licht und sie schloss die Augen.
     
    Juliane öffnete die Lider und fand sich an einem seltsamen Ort wieder. Um sie herum war alles weiß. Nicht das sterile Weiß eines Operationssaals, sondern samtig wie Orchideenblüten.
    »Wo bin ich?«
    »Für dich ist es der Ort der Entscheidung«, sagte die glockenhelle Stimme.
    Juliane runzelte die Stirn.
    »Du musst wählen.« Das Weiß zerfaserte und gewährte einen Blick in Julianes Zimmer. Das typische Reich eines Teenagers, der Schreibtisch überladen mit Heften und Schulbüchern, mittendrin Taschenrechner und Zirkel. Ihre Lippenstifte lagen verstreut auf der Kommode, weil sie sich zuerst für keinen hatte entscheiden können und dann keine Lust hatte aufzuräumen.
    Die hellen Möbel, die teure Stereoanlage, das übervolle Bücherregal. Das Notebook und das Glätteisen, das sie sich ungefragt von ihrer Schwester geliehen hatte, lagen auf dem Bett. Juliane betrachtete alles, als wäre es ihr fremd.
    »Das Bekannte«, sagte die Stimme.
    Juliane wandte ihre Aufmerksamkeit auf eine andere Stelle, an der das Weiß aufriss, und für den Bruchteil eines Augenblicks eine sonnenüberflutete Waldlichtung zeigte. Sechs Reiter saßen auf prachtvollen Pferden. Die fünf Männer trugen schwarze Rüstungen, einfache Helme mit Visieren verdeckten die Gesichter. Den letzten Reiter kleidete zwar keine Rüstung, doch die Kapuze seines altertümlichen Umhangs hing ihm tief ins Gesicht. Ihnen allen haftete die Aura tödlicher Gefahr und schierer Erbarmungslosigkeit an.
    Das Bild verschwamm und
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