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Der Zauberspiegel

Der Zauberspiegel

Titel: Der Zauberspiegel
Autoren: Lynn Carver
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Sie konnte nicht einmal eine Blindschleiche von einer Kreuzotter unterscheiden.
    Mit etwas Mühe brach sie einen langen Ast ab, den sie als Wanderstock und als Waffe benutzen konnte.
    Das Aufblitzen der Sonnenstrahlen zwischen den Blättern erregte ihre Aufmerksamkeit, und weil diese Richtung genauso gut schien wie jede andere, folgte sie dem Licht. Doch als wenig später die Sonne unterging, verdüsterte sich das Dickicht und der Wald erwachte zum Leben. Überall raschelte und knackte es. Tierschreie durchbrachen die Stille. Bei jedem neuen Geräusch kroch Juliane ein Schauder über den Rücken. Sie packte den Ast fester.
    Plötzlich sah sie ein glühendes Augenpaar, das sie aus dem Unterholz zu beobachten schien.
    »Weg, weg«, schrie sie.
    Ihre Stimme verscheuchte das Tier, doch sie fühlte sich keineswegs besser. Ihre Furcht erinnerte sie an eine Nacht vor vielen Jahren. Genauso einsam hatte sie sich damals gefühlt.
    Durch den halb offenen Rollladen ihres Kinderzimmers hatten die Scheinwerfer vorbeifahrender Autos unheimliche Schatten geworfen. Die Dunkelheit schien das mechanische Brummen zu dämpfen und Juliane war überzeugt, das, was sie da hörte, wäre ein Monster, das sich im Zimmer versteckte. Sie weinte und rief nach ihrer Mutter, doch diese reagierte nicht. Juliane wusste, dass sie im Wohnzimmer saß, also schluchzte sie lauter, aber ihre Mutter kam nicht. Nur die Lautstärke des Fernsehers wurde hochgedreht.
    Damals hatte Juliane das erste Mal einen Kloß in ihrem Inneren bemerkt. Ein Gefühl der Verlassenheit, das ihr Innerstes zum Zittern brachte.
    Die Erinnerung ließ sie schluchzen. Einsam, sie fühlte sich so einsam! Gab es denn niemanden, der sie brauchte? Jemanden, der sich für sie – und zwar nur für sie – interessierte? Nicht für ihr Aussehen oder ihre Herkunft.
    Taumelnd bahnte sich Juliane einen Weg durch das Gehölz, bis sie auf eine Lichtung stolperte. Sie hockte sich auf den Boden. Sie gähnte, doch gleichzeitig wagte sie kaum, eine bequeme Stellung zu suchen, und sang leise alle Lieder, die sie kannte, um wach zu bleiben und die Tiere fernzuhalten.
    Eine Weile gelang es ihr, dann nickte sie ein.
     
    »Endlich«, sagte eine kehlige Frauenstimme.
    Juliane blickte auf und sah sich einer jungen Frau gegenüber. Eine grüne Strähne ringelte sich an der Schläfe entlang durch ihr schneeweißes Haar. Ihre Kleidung sah fremdartig aus, eine Mischung aus antiker Gladiatorin und Lillifee. Die Unbekannte lächelte und trat näher.
    »Geh zum Waldrand, dort liegt Goryydon.«
    Sie wirkte vertraut, obwohl Juliane sicher war, sie noch nie zuvor gesehen zu haben. Die Frau griff nach Julianes rechter Hand. Als sie sich berührten, begann Julianes Handteller zu brennen. Sie starrte die Frau wie hypnotisiert an.
    »Jetzt werden die Goryydoner wissen, dass mein Versprechen eingelöst wurde.«
     
    Die Sonne stand hoch am Himmel, als Juliane erwachte.
    Sie sprang auf und fluchte ungehemmt, als sie einen Schmerz auf ihrer Handfläche wahrnahm. Dort entdeckte sie ein dunkelrotes Muttermal in Form einer Sonne.
    Wo kam das plötzlich her?
    Und was hatte dieser Traum zu bedeuten? Von welchem Schwur war die Rede gewesen? Juliane betrachtete erneut das Muttermal. Sie konnte ihre Überraschung nicht in Worte fassen.
    Dann wühlte sich der Hunger wie ein wütender Drache durch ihre Eingeweide und sie schob ihre Gedanken über den Traum und seine Folgen beiseite.
    »Eigentlich ist mir das im Moment scheißegal. Ich habe Hunger«, murmelte Juliane.
    Sie durchsuchte ihre Taschen, doch das Einzige, was sie zutage förderte, waren eine Büroklammer und ein Streifen Kaugummi.
    Juliane steckte den Kaugummi in den Mund. Im Tageslicht wirkte alles verändert, doch sie glaubte sich daran zu erinnern, an der großen Fichte vorbeigekommen zu sein. Also lief sie in die andere Richtung. Mittlerweile plagte sie nicht nur Hunger, sondern auch Durst. Obwohl es zwischen den Bäumen kühl war, hatte sie einen staubtrockenen Mund.
    Ein Plätschern riss Juliane aus ihren Gedanken und sie folgte dem Geräusch. Inmitten dichter Farnbüschel sprudelte eine Quelle. Sie beugte sich vor und schnupperte.
    Am liebsten hätte sie den Kopf hineingesteckt, um gierig davon zu kosten. Mit beiden Händen schöpfte sie das kühle Wasser und trank, bis ihr Bauch schmerzte und gluckerte. Dann lehnte sie sich an einen Baum und atmete tief durch.
    Bei Tageslicht wirkte der Wald bei Weitem nicht so Angst einflößend wie in der Dunkelheit. Kein
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