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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg
Autoren: Thomas Mann
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das Bild seines Ältervaters sich ihm viel tiefer, deutlicher und bedeutender eingeprägt hatte als das seiner Eltern: was möglicherweise auf Sympathie und physischer Sonderverwandtschaft beruhte, denn der Enkel sah dem Großvater ähnlich, soweit eben ein rosiger Milchbart einem gebleichten und starren Siebziger ähnlich sehen kann. Hauptsächlich aber war es doch wohl für den Alten bezeichnend, der ohne Frage die eigentliche Charakterfigur, die malerische Persönlichkeit in der Familie gewesen war.
    Im öffentlichen Sinne gesprochen, so war die Zeit über Hans Lorenz Castorps Wesen und Willensmeinungen schon lange {41} vor seinem Abscheiden hinweggegangen. Er war ein hochchristlicher Herr gewesen, von der reformierten Gemeinde, streng herkömmlich gesinnt, auf aristokratische Einengung des gesellschaftlichen Kreises, in dem man regierungsfähig war, so hartnäckig bedacht, als lebte er im vierzehnten Jahrhundert, wo das Handwerkertum gegen den zähen Widerstand des altfreien Patriziertums sich Sitz und Stimme im städtischen Rat zu erobern begonnen hatte, und für das Neue nur schwer zu haben. Sein Wirken war in Jahrzehnte eines heftigen Aufschwungs und vielfältiger Umwälzungen gefallen, Jahrzehnte des Fortschritts in Gewaltmärschen, die an den öffentlichen Opfer- und Wagemut beständig so hohe Anforderungen gestellt hatten. An ihm aber, dem alten Castorp, das wußte Gott, hatte es nicht gelegen, wenn der Geist der Neuzeit die weit bekannten, glänzenden Siege gefeiert hatte. Er hatte auf Vätersitte und alte Institutionen weit mehr gehalten als auf halsbrecherische Hafenerweiterungen und gottlose Großstadt-Alfanzereien, hatte gebremst und abgewiegelt, wo er nur konnte, und wäre es nach ihm gegangen, so sah es in der Verwaltung noch heutigentages so idyllisch-altfränkisch aus wie seinerzeit in seinem eigenen Kontor.
    So stellte der Alte, zu seinen Lebzeiten und nachher, sich dem bürgerlichen Auge dar, und wenn der kleine Hans Castorp auch nichts von Staatsangelegenheiten verstand, so machte sein still anschauendes Kinderauge im wesentlichen doch ganz dieselben Wahrnehmungen, – wortlose und also unkritische, vielmehr nur lebensvolle Wahrnehmungen, die übrigens auch später, als bewußtes Erinnerungsbild, ihr wort- und zergliederungsfeindliches, schlechthin bejahendes Gepräge durchaus bewahrten. Wie gesagt, war da Sympathie im Spiele, jene ein Glied überspringende Nächstverbundenheit und Wesensverwandtschaft, die nichts Seltenes ist. Kinder und Enkel schauen an, um zu bewundern, und sie bewundern, um zu lernen und auszubilden, was erblicherweise in ihnen vorgebildet liegt.
    {42} Senator Castorp war hager und hochgewachsen. Die Jahre hatten ihm Rücken und Nacken gekrümmt, aber er suchte die Krümmung durch Gegendruck auszugleichen, wobei sein Mund, dessen Lippen nicht mehr von Zähnen gehalten wurden, sondern unmittelbar auf dem leeren Zahnfleisch ruhten (denn sein Gebiß legte er nur zum Essen an), sich auf würdig-mühsame Art nach unten zog, und hierdurch eben, wie auch wohl als Mittel gegen eine beginnende Unfestigkeit des Kopfes, kam die ehrenstreng aufgeruckte Haltung und Kinnstütze zustande, die dem kleinen Hans Castorp so zusagte.
    Er liebte die Dose – es war eine längliche, mit Gold eingelegte Schildpattdose, die er handhabte, – und benutzte aus diesem Grunde rote Taschentücher, deren Zipfel ihm aus der hinteren Tasche seines Gehrocks zu hängen pflegte. War das eine heitere Schwäche in seiner Erscheinung, so wirkte sie doch durchaus als Alterslizenz, als eine Nachlässigkeit, wie die Betagtheit sie sich entweder bewußt und jovialerweise gestattet oder in ehrwürdiger Unbewußtheit mit sich bringt; und jedenfalls blieb sie die einzige, die Hans Castorps kindlicher Scharfblick je an des Großvaters Äußerem gewahrte. Für den Siebenjährigen aber sowohl wie später in der Erinnerung des Herangewachsenen war die alltägliche Erscheinung des Alten nicht seine eigentliche und wirkliche. In eigentlicher Wirklichkeit sah er noch anders, weit schöner und richtiger aus als gewöhnlich, – nämlich so, wie er auf einem Gemälde, einem lebensgroßen Bildnis erschien, das früher im elterlichen Wohnzimmer gehangen hatte und dann zusammen mit dem kleinen Hans Castorp an die Esplanade übergesiedelt war, wo es seinen Platz über dem großen rotseidenen Sofa im Empfangszimmer erhalten hatte.
    Es zeigte Hans Lorenz Castorp in seiner Amtstracht als Ratsherrn der Stadt – dieser ernsten, ja
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