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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg
Autoren: Thomas Mann
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uns hier oben«, sagte der verrenkte Joachim, und dann war er es, nicht der Herrenreiter, der so grauenhaft breiig hustete. Darüber mußte Hans Castorp bitterlich weinen und sah ein, daß er in die Apotheke laufen müsse, um sich Cold-cream zu besorgen. Aber am Wege saß Frau Iltis mit einer spitzen Schnauze und hielt etwas in der Hand, was offenbar ihr »Sterilett« sein sollte, aber nichts weiter war als ein Sicherheits-Rasierapparat. Das machte Hans Castorp nun wieder lachen, und so wurde er zwischen verschiedenen Gemütsbewegungen hin und her geworfen, bis der Morgen durch seine halboffene Balkontür graute und ihn weckte.

{34} Zweites Kapitel
    Von der Taufschale
und vom Großvater in zwiefacher Gestalt
    Hans Castorp bewahrte an sein eigentliches Elternhaus nur blasse Erinnerungen; er hatte Vater und Mutter kaum recht gekannt. Sie starben weg in der kurzen Frist zwischen seinem fünften und siebenten Lebensjahr, zuerst die Mutter, vollkommen überraschend und in Erwartung ihrer Niederkunft, an einer Gefäßverstopfung infolge von Nervenentzündung, einer Embolie, wie Dr. Heidekind es bezeichnete, die augenblicklich Herzlähmung verursachte, – sie lachte eben, im Bette sitzend, es sah so aus, als ob sie vor Lachen umfiele, und dennoch tat sie es nur, weil sie tot war. Das war nicht leicht zu verstehen für Hans Hermann Castorp, den Vater, und da er sehr innig an seiner Frau gehangen hatte, auch seinerseits nicht der Stärkste war, so wußte er nicht darüber hinwegzukommen. Sein Geist war verstört und geschmälert seitdem; in seiner Benommenheit beging er geschäftliche Fehler, so daß die Firma Castorp & Sohn empfindliche Verluste erlitt; im übernächsten Frühjahr holte er sich bei einer Speicherinspektion am windigen Hafen die Lungenentzündung, und da sein erschüttertes Herz das hohe Fieber nicht aushielt, so starb er trotz aller Sorgfalt, die Dr. Heidekind an ihn wandte, binnen fünf Tagen und folgte seiner Frau unter ansehnlicher Beteiligung der Bürgerschaft ins Castorpsche Erbbegräbnis nach, das auf dem St. Katharinenkirchhof sehr schön, mit Blick auf den Botanischen Garten, gelegen war.
    Sein Vater, der Senator, überlebte ihn, wenn auch nur um ein weniges, und die kurze Zeitspanne, bis er auch starb – übrigens gleichfalls an einer Lungenentzündung, und zwar unter großen Kämpfen und Qualen, denn zum Unterschiede von seinem {35} Sohn war Hans Lorenz Castorp eine schwer zu fällende, im Leben zäh wurzelnde Natur – diese Zeitspanne also, es waren nur anderthalb Jahre, verlebte der verwaiste Hans Castorp in seines Großvaters Hause, einem zu Anfang des abgelaufenen Jahrhunderts auf schmalem Grundstück im Geschmack des nordischen Klassizismus erbauten, in einer trüben Wetterfarbe gestrichenen Haus an der Esplanade, mit Halbsäulen zu beiden Seiten der Eingangstür, in der Mitte des um fünf Stufen aufgetreppten Erdgeschosses, und zwei Obergeschossen außer der Beletage, wo die Fenster bis zu den Fußböden hinuntergezogen und mit gegossenen Eisengittern versehen waren.
    Hier lagen ausschließlich Repräsentationsräume, eingerechnet das helle, mit Stuck verzierte Eßzimmer, dessen drei weinrot verhangene Fenster auf das rückwärtige Gärtchen blickten, und wo während der achtzehn Monate Großvater und Enkel alltäglich um 4 Uhr allein miteinander zu Mittag aßen, bedient von dem alten Fiete mit den Ohrringen und den silbernen Knöpfen am Frack, der zu diesem Frack eine ebensolche battistene Halsbinde trug, wie der Hausherr selbst, auch auf ganz ähnliche Art das rasierte Kinn darin barg, und den der Großvater duzte, indem er plattdeutsch mit ihm sprach; nicht scherzender Weise – er war ohne humoristischen Zug –, sondern in aller Sachlichkeit und weil er es überhaupt mit Leuten aus dem Volk, mit Speicherarbeitern, Postboten, Kutschern und Dienstboten so hielt. Hans Castorp hörte es gern, und sehr gern hörte er auch, wie Fiete antwortete, ebenfalls platt, indem er sich beim Servieren von links hinter seinem Herrn herumbeugte, um ihm in das rechte Ohr zu sprechen, auf dem der Senator bedeutend besser hörte als auf dem linken. Der Alte verstand und nickte und aß weiter, sehr aufrecht zwischen der hohen Mahagonilehne des Stuhles und dem Tisch, kaum über den Teller gebeugt, und der Enkel, ihm gegenüber, betrachtete still, mit tiefer und unbewußter Aufmerksamkeit, die knappen, {36} gepflegten Bewegungen, mit denen die schönen, weißen, mageren alten Hände des Großvaters mit
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