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Der Wolfstrank

Der Wolfstrank

Titel: Der Wolfstrank
Autoren: Jason Dark
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gefallen war. Das Entsetzen und auch die Angst hatten sie in das Zimmer getrieben. Ihr Körper fühlte sich doppelt so schwer an, und nur mühsam und auch mit einer starken Willenskraft drehte sie sich zur Seite.
    Die Nässe stammte von ihrem Kopfkissen. In das hatte sie wie ein junges Mädchen mit Liebeskummer hineingeheult. Das war vorbei, denn jetzt war sie wieder voll da, drückte beide Hände gegen die Matratze und stemmte sich hoch.
    Sie zog die Beine an, blieb auf dem Bett knien, schaute gegen die Wand über dem Kopfende, und erst jetzt fiel ihr auf, dass es doch nicht so finster war.
    Im Flur brannte Licht. Die Tür zum Schlafzimmer war nicht geschlossen, so dass sich der gelbe pudrige Schein ausbreiten konnte und auch das Bett erreichte. Vor ihr an der Wand verlief er sich, aber sie sah noch das alte Holzkreuz, das dort schon seit Jahren hing und für Marlene immer wieder so etwas wie ein Stück Hoffnung gewesen war.
    Es hing immer noch dort. Sie wollte es auch nicht verteufeln, denn sie glaubte auch weiterhin an seine Kraft, aber es fiel ihr in diesen Augenblicken schon schwer.
    Sehr langsam schob sie sich nach links, erreichte die Bettkante und richtete sich schließlich neben der Schlafstätte auf, zitternd, den Blick ins Leere gerichtet, allein mit ihren schlimmen Gedanken.
    Mit zwei kleinen Schritten erreichte sie den Schrank, öffnete dort die rechte Tür und holte ein Taschentuch hervor. Ihre Nase war verschleimt, der Rachen ebenfalls. Als sie sich etwas davon befreit hatte, ging sie in das kleine Bad. Schon auf dem Weg hämmerte immer nur ein Name durch ihren Kopf.
    »Lucy!«
    Sie war ihrer Obhut entwischt, und sie hatte nichts dagegen tun können. Die Bestie war gekommen und hatte Lucy geholt. Dabei war sie nicht mal entführt worden. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte Lucy auf die Bestie gewartet und war mehr oder weniger freiwillig mit ihr gegangen.
    Das konnte Marlene nicht fassen. So etwas tat man nicht freiwillig, aber ihre Enkelin hatte es getan. Damit musste die Großmutter fertig werden.
    Sie betrachtete ihr Spiegelbild. Es gab Frauen in ihrem Alter, die wesentlich schlechter aussahen als sie. Marlene konnte sich noch immer sehen lassen, aber jetzt, wo der Spiegel ihr Gesicht haargenau wiedergab, da sah sie so alt aus, wie sie sich in diesem Augenblick fühlte.
    Ihr Gesicht erinnerte mehr an ein Relief. Schatten, Furchen und Falten zeichneten die Haut. Die Lippen waren so blass wie nie zuvor. Rote Stellen umgaben die Augen, die Nachwirkungen des Weinens. Sie sah auch, dass sie zitterte, und konnte nichts dagegen tun, so sehr sie sich auch anstrengte. Ihr Wille war zu schwach und das Nervenkostüm zerfetzt. Sie ließ das Wasser laufen, kühlte erst ihre Hände und danach ihr Gesicht. Wasser spritzte auch gegen ihr Haar, dessen graue Farbe durch ein künstliches Dunkelblond ersetzt worden war.
    Erst nach ungefähr einer Minute richtete sie sich wieder auf. Sie trocknete sich mit sehr zeitlupenhaften Bewegungen ab. Es ging ihr äußerlich etwas besser, aber innerlich war sie noch von der Rolle, denn in ihrem Magen hatte sich Übelkeit ausgebreitet.
    Als sie die ersten Schritte auf die Tür zuging, da merkte sie, wie unsicher sie auf den Beinen war. Das kleine Bad war plötzlich zur Sauna geworden, so sehr begann sie zu schwitzen, aber sie riss sich zusammen und ging wieder nach unten, wo sich die kleine Küche befand. Es war eigentlich ihr Platz. Durch das Fenster konnte sie in die freie Natur schauen und bis hin zum Waldrand, den sie so gern beobachtete. Das war jetzt vorbei, denn sie hatte nicht vergessen, wohin ihre Enkelin gegangen war – in den Wald!
    Wie im Märchen! Wie bei Rotkäppchen. Auch da hatte eine Großmutter eine wichtige Rolle gespielt, ebenso wie im wahren Leben. Nur lag in diesem Fall nicht der Wolf im 3ett der Großmutter, aber ihr Rotkäppchen Lucy war bei dem Wolf.
    Die Geißlein hatte er fressen wollen. Es war ihm nicht gelungen, weil sie sich versteckt hatten.
    Was war mit Lucy?
    Daran wollte sie gar nicht denken. Denn dann schossen wieder die Vorwürfe in ihr hoch, dass sie es nicht geschafft hatte, die Enkelin zu schützen.
    Was sollte sie tun, was konnte sie tun?
    Nichts. Sie musste warten, bis sich die Dinge wieder normalisierten. Aber würden sie das? Und würde das ohne eine Hilfe geschehen? Daran glaubte Marlene nicht. Nur hatte sie keine Ahnung, wen sie um Hilfe bitten sollte? Die Polizei anrufen?
    Unmöglich. Die Beamten hätten sie ausgelacht, wenn sie
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