Der Wolfsthron: Roman (German Edition)
hatte«, erwiderte Raisa. Es gelang ihr nur mit Mühe, einen gelassenen Ton anzuschlagen. »Ich hatte nicht gewusst, dass Ihr kommen würdet.«
»Ich bin anstelle meines Bruders hier«, erklärte Gerard. »Er kann leider nicht hier sein.«
Die darauffolgende Stille lag bleiern in der Luft.
»Ich verstehe.« Raisa verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Mund wurde trocken, ihr Magen verkrampfte sich. Es war absolut unmöglich, dass Geoff seinen Bruder Gerard als Repräsentanten geschickt hatte. »Sprecht weiter«, forderte sie ihn auf.
Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie Lord Hakkam an der Tür stand und das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte, als rechnete er damit, jeden Moment fliehen zu müssen.
»Ich bringe schlechte Neuigkeiten. Mein Bruder ist auf dem Weg hierher von Banditen überfallen worden, und er und seine gesamte Familie sind gestorben«, sagte Gerard ohne auch nur den leisesten Versuch, so dreinzublicken, als würde es ihm leidtun.
»Banditen?« Raisa räusperte sich. »Es tut mir sehr leid, das zu hören.« Was absolut der Wahrheit entsprach.
Gerard lächelte. »Angesichts dessen, was passiert ist, könnt Ihr Euch vorstellen, dass ich mich ungern ohne meine Wache irgendwo hinbegebe. Dennoch habe ich es als meine Pflicht erachtet herzukommen, da ich der letzte Überlebende der Montaigne-Brüder bin. Und jetzt der unbestrittene König von Arden.«
KAPITEL SECHSUNDDREISSIG
Ein gefährlicher Tanz
R aisa schaffte es, das Diner zu überstehen, ohne sich über den neuen König von Arden oder sonst jemanden zu erbrechen. Sie schaffte es, indem sie nur sehr wenig aß.
Man hatte Montaigne neben Raisa platziert, wie es einem anderen Staatsoberhaupt zustand. Er war unfähig, sich auf eine gesellschaftliche Konversation einzulassen – nicht, dass Raisa in der Stimmung dazu gewesen wäre –, und sprach hauptsächlich über Armeen und Politik und die Herausforderungen, die das Regieren von Tamron mit sich brachte, wie den Widerstand zu zermalmen und die Adeligen zur Ordnung zu rufen.
Raisa vermutete, dass er sich nicht etwa für diese Gesprächsthemen entschied, weil er sie als Gleichrangige oder Vertraute ansah, sondern weil es die einzigen Themen waren, die ihn interessierten. Oder weil er darin eine Möglichkeit sah, sie einzuschüchtern.
Er stellte auch zahlreiche Fragen über die militärische und politische Situation und Struktur der Fells, die Raisa nur ausweichend beantwortete, um dann das Thema zu wechseln. Sie traute Gerard Montaigne nicht, und obwohl er wahrscheinlich bereits etliche Spione im Schloss hatte, wollte sie keine weitere Informationsquelle darstellen.
Während des ganzen Abendessens musste Raisa sich anstrengen, ihre scharfe Zunge zu hüten. Du bist erwachsen, sagte sie sich. Und eine Königin. Du kannst deinen Launen nicht mehr einfach so nachgeben. Du musst strategisch denken und jedes Wort abwägen. Er ist hier, um Informationen zu sammeln. Es ist am besten, wenn er dich unterschätzt.
Es besteht keine Notwendigkeit, ihn wissen zu lassen, dass du ihn verabscheust. Noch nicht.
Am Haupttisch saßen vorwiegend ausländische Würdenträger, darunter verschiedene Herzöge und Fürsten aus den Reichen der Flatlands, die Könige und Königinnen von We’enhaven und Bruinswallow und ein Prinz von den Südlichen Inseln, der sich mit einem Vermögen an Juwelen behängt hatte.
Die meisten dieser Leute mag ich nicht einmal, dachte Raisa. Und ich vertraue ihnen sogar noch weniger. Unwillkürlich musste sie an die weitaus schlichteren Mahlzeiten von Wien House denken, an die lockere Kameradschaft, die sie alle verbunden hatte.
Schließlich begab man sich in den Ballsaal und bildete eine Empfangsreihe, sodass Raisa die Gäste persönlich begrüßen konnte. Die Grauwölfe hatten keinen Dienst. Raisa hatte befohlen, dass sie als Gäste und nicht als Leibwächter an der Veranstaltung teilnahmen.
»Talia!« Raisa umarmte die lächelnde Soldatin, die zusammen mit Pearlie gekommen war. Immerhin ein Mensch, den sie gern sah. »Es ist so schön zu sehen, dass es dir wieder besser geht.«
»Hauptmann Byrne hat gesagt, dass ich nicht mehr lange faulenzen kann.« Talias Stimme klang leise und rau, war aber dennoch gut zu verstehen. »Ab morgen bin ich wieder zurück im Dienst. Dank Eurer Hilfe, Hoheit.« Talia drückte Raisa fest an sich und löste sich dann wieder von ihr, während Pearlie mit Tränen in den Augen zusah.
Cat war zusammen mit Dancer da. Er trug einen
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