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Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast
Autoren: Eva Stachniak
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Majestät, und auch nicht meinen Glauben an Russland.«
    Das gefiel der neuen Kaiserin. Es freute sie so sehr, dass sie den Hof-Fourier anwies, meinem Vater die Hofjournale zum Binden zu schicken. Und sie hatte ihn nach mir gefragt.
    »Bringen Sie Ihre Tochter her, ich möchte sie sehen«, hatte sie gesagt.
    Mein Vater wandte sich ab, als er mir das erzählte, darum konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, aber seine Bewegungen waren unnatürlich langsam und verhalten.
    Ich erinnere mich noch an den Titel des Buchs, an dem mein Vater arbeitete. Es waren Die Annalen und die Historien des Tacitus. Es war das einzige Mal, dass ich ihn gegen die Regel verstoßen sah, derzufolge die Schrift nicht über die Schattenlinien hinausreichen durfte.
     
    Mitte November, sieben Monate nach dem Tod meiner Mutter, fuhr ich mit meinem Vater zum kaiserlichen Hof. Es war ein düsterer Tag, verschleiert von feuchtem Dunst und vom Rauch der Kamine. Die Kutsche fuhr über die Isaaksbrücke, eine Pontonbrücke, die alljährlich Ende Dezember durch die Eisbahn über die Newa ersetzt wurde. Ich schmiegte mich an meinen Vater und stellte mir vor, wie die Kaiserin mir lächelnd die Hand zum Kuss hinstrecken würde. Die Pelzdecke über unseren Knien roch leicht nach Birkenteer und Kwass. Bevor wir ausstiegen, nahm mein Va
ter mich auf seinen Schoß und küsste mich auf die Stirn. Er sagte, er wolle meine Zukunft sichern für den Fall, dass ihn Gott ebenso wie meine Mutter plötzlich zu sich riefe.
    »Du hast niemanden, der für dich sorgt, außer mir. Ich kann nicht mehr ruhig schlafen, wenn ich daran denke, dass ich sterben könnte und dich alleinlassen müsste«, sagte er leise.
    Er hielt mich ganz fest. Er roch anders als sonst, nicht nach Essig und Leim, sondern nach Eau de Cologne und Schnupftabak.
     
    Kaiserin Elisabeth. Ich musste an die Engel denken, als ich sie zum ersten Mal sah, an lichtumflutete Boten Gottes, die ihre Flügel schützend über heimatlose Kinder ausbreiten und sie in Sicherheit bringen. Sie trug ein silbern schimmerndes Kleid, der Duft von Orangenblüten und Jasmin umwehte sie.
    »Komm her, mein Kind«, sagte sie freundlich.
    Ich zögerte. Einem Engel nähert man sich nicht ohne Furcht.
    »Geh schon.« Ich spürte die Hand meines Vaters im Rücken, die mich mit sanftem Druck vorwärts schubste.
    Zögerlich trat ich auf die Kaiserin des russischen Reichs zu, den gesenkten Blick starr auf den mit Gold und Perlen bestickten Saum ihres Rocks gerichtet. Ich betete, dass mein Knicks, den ich tagelang geübt hatte, nicht verriet, wie unwohl mir war.
    Die Kaiserin fasste mir unters Kinn und hob es etwas an, sodass ich ihr direkt in die Augen sah. »Was für ein hübsches Lächeln«, murmelte sie.
    Ich fühlte ihre Finger auf meinen Wangen, eine sanfte Liebkosung. Ich ließ mich von ihren Worten einhüllen, wie von der Wärme der blau-weißen Kachelöfen, die im Saal standen. Mein Vater hatte mir gesagt, die Kaiserin habe ein gutes Herz, auch sie wisse, wie es ist, wenn man seine Mutter verloren hat und mit Angst in die Zukunft blickt. Hatte sie nicht den verwaisten Sohn ihrer Schwester an den Hof geholt und ihn zum Kronprinzen gemacht?
    »Wie heißt du, mein Kind?«
    »Barbara«, sagte ich.
    »Warwara Nikolajewna, Euer Hoheit«, verbesserte mein Vater. Es war die russische Form meines Namens, kombiniert mit dem Vatersnamen.
    »Dein Vater hat mich gebeten, dich in meine Obhut zu nehmen, falls er stirbt, Warwara. Willst du das auch?«
    »Ja, Euer Hoheit.«
    »Schön.« Die Kaiserin sah meinen Vater an und tupfte ihm mit ihrem zusammengefalteten Fächer auf die Schulter. »Ich werde gut auf sie achtgeben, das verspreche ich Ihnen.«
    Mein Vater stand etwas gebeugt und bewegungslos da, während die Kaiserin davonschritt, umringt von Höflingen, die ihre Güte priesen. Er senkte den Blick, als einige vor mir stehenblieben und mich durch ihre Monokel musterten wie einen Vogel im Käfig. Seine Hand drückte die meine; sie war kalt und verschwitzt.
    Ahnte er, wie es mir ergehen würde?
    Ich stand stumm und zitternd da, bis der letzte Höfling weg war und die vergoldeten Türen geschlossen wurden. Ich hätte gerne gewusst, wer von all den feinen Herrschaften der Großfürst Peter war, aber ich wagte nicht zu fragen.
     
    Es begann zu schneien, als wir den Palast verließen. Die Kutsche wartete auf uns, der Kutscher begrüßte uns mit einem breiten Grinsen. Sein Atem stank nach Wodka. Am Ufer der Newa spielte der Wind mit
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