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Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast
Autoren: Eva Stachniak
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losem Kehricht, einem kaputten Strohhut und einem Fetzen Sackleinwand.
    Eine Gruppe Sträflinge mit kahlrasierten Schädeln, immer zwei aneinandergekettet, wurde am Fluss entlanggetrieben. Viele hatten aufgeschlitzte Nasenflügel, einigen, die wie Tataren aussahen, fehlte die Nase oder ein Ohr. Die weichen, nassen Schneeflocken fielen immer dichter, die kahlen Köpfe wurden weiß.
    Unsere Kutsche bog zur Isaaksbrücke ab.
    Jetzt, nachdem ich den Palast von innen gesehen hatte, kam mir die Pelzdecke noch schäbiger vor und der Kwassgeruch noch aufdringlicher.
    »Das bedeutet nicht, dass ich bald sterben werde, Barbara«, sagte mein Vater. »Ich will nur für den schlimmsten Fall vorsorgen.«
    An diesem Punkt begann ich zu weinen.
     
    Ich war nicht dabei, als Papa starb. Eines Abends Ende Dezember schob er seine Schüssel Kascha mit saurer Sahne von sich weg. Er hatte keinen Appetit. Nur seine übliche heiße Milch wollte er haben – er würde sie in seinem Schlafzimmer trinken, sagte er.
    Hinter uns lag unser erstes Weihnachten ohne Mama, nichts als Scherben, die kein Ganzes ergaben, ein übervoller Teller, ein Schuh, der nicht passte, ein leerer Stuhl. Ein erstickendes Gefühl von Leere überkam mich jedes Mal, wenn ich mir eingestehen musste, dass selbst die Schals in Mamas Schrank nur noch nach trockenem Rosmarin rochen.
    Nur noch wenige Tage bis zum neuen Jahr, zu dem Jahr, in dem ich sechzehn werden und kein Kind mehr sein würde.
    Ich hörte das neue Dienstmädchen, das mit Papas Milch nach oben gegangen war, entsetzt aufschreien und stürzte hinauf. Sie ließ mich nicht ins Zimmer, sondern machte das Kreuzzeichen über meinem Kopf und umschlang mich mit ihren Armen, dabei murmelte sie Gebete, Beschwörungen des Schicksals, ebenso vergeblich wie jede Hoffnung. In ihrer Schürze hing noch der Duft der Weihnachtsbäckerei, von Rosinen, Vanille und Nelken.
    »Ruf euren Priester, Warwara«, sagte sie und verstellte mir den Weg zur Tür. »Um Gottes willen, schnell, lass den Priester holen.«
    Ich stieß sie weg.
     
    Als der katholische Priester, begleitet von einem Ministranten, kam, lag Papa auf seinem Bett, das Gesicht bleich und starr. Seine Fingerspitzen waren unnatürlich gerötet, als hätte er sie im Sterben wundgescheuert. Auf dem Tisch lag ein Blatt Papier mit Notizen in seiner Handschrift, daneben eine Schreibfeder, deren Spitze abgeknickt war.
    »Ihm ist das Herz gebrochen«, sagte der Priester. Ich stellte mir das Herz meines Vaters vor, lauter ganz feine scharfe Splitter, durchsichtig wie Glas.
    Das Blatt Papier enthielt keine Botschaft an mich. Er hatte nur aufgeschrieben, was am nächsten Tag alles zu erledigen war. Es hatte sich herumgesprochen, dass die Kaiserin ihm wohlgesonnen war, und es waren neue Aufträge hereingekommen. Er hatte notiert, dass er Leim bestellen musste, Werkzeuge mussten repariert, Messer geschliffen werden. Die Spitze des Polierstahls, den er am liebsten benutzte, war abgebrochen. Man musste einen anderen Platz finden, um das Leder zu lagern; er hatte Spuren von Schimmel auf einem Stück Schweinsleder entdeckt. Zum Fetten der Oberflächen am besten Mandelöl verwenden , hatte er geschrieben.
    Der Priester kniete nieder und stimmte das Totengebet an. Auch ich fiel auf die Knie. Wieczne odpoczywanie , versuchte ich zu sagen, Herr, gib ihm die ewige Ruhe, aber mir blieben die Worte im Hals stecken.
    Es ist alles sinnlos, dachte ich. An diesem dunklen Dezemberabend gab es nur Schweigen und Tränen.
     
    Die neuen Aufträge hatten nicht genug Geld eingebracht, die Schulden zu decken, sagte man mir. Unser Haus und das Inventar der Werkstatt wurden versteigert. Ich sah zu, wie ein Käufer den Lieblingsteppich meiner Mutter zusammenrollte und wegtrug, wie ein anderer die Bücher meines Vaters in Kisten packte und auf einen Wagen lud. Am Ende blieben mir nur ein kleines Bündel Kleider und ein paar Rubel.
    Die Kaiserin hat versprochen, sich um mich zu kümmern, dachte ich.
    Im Februar 1743, in der kältesten Zeit des Jahres, begann mein neues Leben. Ein Lakai mit sauer riechendem Atem holte mich ab, brachte mich zum Winterpalast und ließ mich in einem zugigen Flur gleich hinter dem Dienstboteneingang allein. Ich solle war
ten, sagte er. Niemand nahm Notiz von mir, nur eine Katze, die um meine Knöchel strich. Dienstboten huschten vorbei, sie wirkten gehetzt und verängstigt. Ich hörte klatschende Schläge und Verwünschungen, eilige Schritte trippelten irgendwo auf Hintertreppen.
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