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Der Willy ist weg

Der Willy ist weg

Titel: Der Willy ist weg
Autoren: Jörg Juretzka
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Fingerspitzen aneinander legten und sich auf die Spitzen ihrer Zehen erhoben.
    Wenn es möglich ist, dass vier schwarze Sonnenbrillen verdutzt dreinschauen, dann taten sie das jetzt.
    Sie kamen von verschiedenen Schulen, wohnten in verschiedenen Vierteln, hatten aber eine Gemeinsamkeit: Sie waren die jeweils einzigen auch noch übergewichtigen Jungen ihrer Klassen, Schulen, Viertel, die unbedingt Balletttänzer werden wollten. Dieser gemeinsame Traum, kann man sagen, führte sie zusammen.
    Wie ich sie so auseinander trippeln und ein, zwei kleine Sprünge und grazile Schwünge ihrer Arme in ihre Spiegelbildlich vorgetragene Figur einbauen sah, musste ich wieder einmal zugeben, sie waren dafür geboren.
    Und von der Ballettschule zu den Trainingsräumen martialischer Kampfsportarten ist es ein viel kleinerer Schritt, als die meisten Leute meinen.
    Ein Paukenschlag aus den Boxen, und zwei Sonnenbrillen stiegen senkrecht und zwei Chinesen flogen waagerecht.
    Auch von der Schwindel erregenden Tanzfigur Pirouette zu einem derben Tritt an den Hals ist es, so gesehen, nur ein Schritt, eine Beinstreckung halt, gefolgt, in der gleichen Drehung, von einer doppelten Armstreckung, und alles, was die bis dahin zuschauenden Schisser und Poppel anschließend noch zu tun hatten, war, mit Stiefel und Billardqueue der Botschaft von der Niederlage noch mal etwas Nachdruck zu verleihen.
    Der Commodore rollte los, und einer der Chinesen schaffte es so gerade hinters Steuer des Chevy und setzte zurück, oder Charly hätte den Wagen in die Gracht geschoben.
    Ohne weitere Unterbrechung bewegten wir uns durch ein Spalier von runden Augen und offenen Mündern aus der Gasse, dann dem Viertel und schließlich aus der Stadt hinaus, und unsere Patientin auf der Rücksitzbank hörte nicht auf zu wimmern, zu betteln und zu flehen, bis wir sie an der Notaufnahme des Marienhospitals in Mülheim abgeliefert hatten.
    Zu Hause wurde das ganze Geschehen nicht weiter kommentiert. Hingefahren, zugeschlagen, abgehakt.
    Weihnachten war endlich vorbei, der Alltag kehrte zurück und erlaubte ein kurzes Durchatmen vor der nächsten Festivität.
    Sylvester kam - für uns schon um zehn am Abend, als Willy es schaffte, die daumendicke Glut von einem Fünfblatt in den Pappkarton mit den Krachern und Raketen fallen zu lassen - und endete in der Art von Exzess, an dessen Einzelheiten sich nach dem Erwachen niemand mehr so recht zu erinnern vermag. Sylvester halt, the same procedure wie jedes Jahr. Dagmar hätte es sicher gefallen.
    Die Aufräumarbeiten nahmen fast zwei Wochen in Anspruch, meine Blessuren heilten ab, ich fand einen Scheck in der Post, im Haus herrschte das übliche Kommen und Gehen, und irgendwie brauchten wir beinahe drei volle Tage, um zu merken, dass unser Willy nicht mehr da war.

Kapitel 2
    Mit dem Fuchsschwanz ging es mit Abstand am besten. Charly kam ins Zimmer und sah mir interessiert zu, wie ich ein Rechteck aus einem dicken Paperback heraussägte. Aus einem Elmore Leonard, nebenbei. Wenn schon, denn schon.
    Ich sagte nichts, er erst mal auch nicht, also sprach keiner von uns beiden, bis ich mit dem Sägen fertig war. Das Buch hatte jetzt die Form eines plumpen Ls. Ich wog es in der Hand. Das sollte passen. Charly blickte immer noch interessiert.
    »Alles für Ragobert«, sagte ich mit einer fließenden Handbewegung, die meine komplette Aufmachung einschloss. Ich trug ein enges schwarzes T-Shirt über schwarzen Jeans über dunkelgrünen Basketballschuhen. Jetzt steckte ich den L-förmigen Roman in die Innentasche eines schwarzen Lederblousons und zog ihn mir an.
    »Sieht das echt aus?«, fragte ich.
    »Zum Fürchten«, fand Charly. »Hör mal«, fuhr er fort.
    »Weshalb ich hochgekommen bin: Die Reiseunterlagen sind da.«
    Mit den beiden unteren Enden des Reißverschlusses in ungeduldigen Fingern sah ich auf. Ich hatte tatsächlich fast vergessen, dass die gesamte Gang einen dreiwöchigen Ibiza-Urlaub gebucht hatte. Dazu muss ich sagen, dass mich von Anfang an Zweifel geplagt hatten, ob ich mitfliegen könnte. Mein Job ging derzeit vor. Und - keine Lösung, keine Reise, so sah es für mich aus.
    »Und?«, fragte ich deshalb, nur schwach interessiert.
    »Und der Willy ist weg.«
    Hm. Das war schon ein bisschen seltsam. Die ganze Sache war Willys Idee gewesen, und er hatte seither praktisch jeden Morgen dem Briefträger aufgelauert und ihm gelegentlich sogar hinterhergeschimpft, wenn wieder keine Buchungsbestätigung im Kasten war. Erst ein paar
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