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Der Widersacher

Der Widersacher

Titel: Der Widersacher
Autoren: Michael Connelly
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Irvings äußeres Erkennungszeichen war sein glatt rasierter Schädel. Er hatte ihn schon gehabt, lange bevor es Mode geworden war. Bei der Polizei hatten sie ihn Mr. Clean genannt, wegen seiner Glatze und weil er in erster Linie geholt worden war, um den politischen Saustall samt seinem Geklüngel auszumisten, der sich in einer schwerbewaffneten und komplexen Behörde mit der Zeit fast zwangsläufig breitmacht.
    Im Moment wirkte Irving allerdings sichtlich angeschlagen. Seine Haut war grau und schlaff, und er sah älter aus, als er war.
    »Ich habe immer wieder gehört, dass der Verlust eines Kindes am schwersten zu verkraften ist«, sagte er. »Jetzt weiß ich, dass das stimmt. Da spielt es auch keine Rolle, in welchem Alter und unter welchen Umständen … es sollte einfach nicht passieren. Es ist nicht der natürliche Lauf der Dinge.«
    Es gab nichts, was Bosch dazu hätte sagen können. Er hatte mit genügend Eltern toter Kinder zu tun gehabt, um zu wissen, dass es an der Feststellung des Stadtrats nichts zu rütteln gab. Irving hatte den Kopf gesenkt und den Blick auf das Muster des Teppichs gerichtet.
    »Ich war mehr als fünfzig Jahre lang in allen möglichen Funktionen für diese Stadt tätig«, fuhr er fort. »Und da stehe ich nun und kann keiner Menschenseele trauen. Deshalb suche ich Hilfe bei einem Mann, den ich in der Vergangenheit zu ruinieren versucht habe. Warum? Das weiß ich nicht einmal selbst. Wahrscheinlich, weil unsere Scharmützel etwas Integres hatten. Weil Sie etwas Integres hatten. Ich mochte Sie und Ihre Methoden zwar nicht, aber ich habe Sie respektiert.«
    Jetzt blickte er Bosch an.
    »Ich möchte, dass Sie mir sagen, was mit meinem Sohn passiert ist, Detective Bosch. Ich möchte die Wahrheit wissen, und ich glaube, dass ich mich darauf verlassen kann, sie von Ihnen zu erfahren.«
    »Egal, wie sie aussieht?«
    »Egal, wie sie aussieht.«
    Bosch nickte.
    »Das kann ich machen.«
    Er wollte aufstehen, hielt aber inne, denn Irving fuhr fort:
    »Sie haben mal gesagt, entweder zählt jeder, oder es zählt keiner. Daran kann ich mich noch erinnern. Dafür wäre das hier die Probe aufs Exempel. Zählt der Sohn Ihres Feindes? Werden Sie für ihn Ihr Bestes geben? Werden Sie sich auch für ihn voll reinhängen?«
    Bosch sah den Stadtrat nur an. Entweder zählt jeder, oder es zählt keiner. Das war seine Devise. Aber er sprach sie nie aus. Er befolgte sie nur. Er war sicher, dass er sie Irving gegenüber nie erwähnt hatte.
    »Wann?«
    »Wie bitte?«
    »Wann habe ich das gesagt?«
    Als er merkte, dass er sich möglicherweise verplappert hatte, zuckte Irving mit den Achseln und nahm die Haltung eines verwirrten alten Mannes ein, obwohl seine Augen so klar und glänzend waren wie schwarze Murmeln im Schnee.
    »Das weiß ich nicht mehr. Es ist jedenfalls etwas, was ich über Sie weiß.«
    Bosch stand auf.
    »Ich werde herausfinden, was mit Ihrem Sohn passiert ist. Können Sie mir etwas darüber sagen, was er hier wollte?«
    »Nein, nichts.«
    »Wie haben Sie es heute Morgen erfahren?«
    »Ich wurde vom Polizeichef angerufen. Persönlich. Ich bin sofort hergekommen. Aber man hat mich ihn nicht sehen lassen.«
    »Völlig zu Recht. Hatte er Familie? Ich meine, außer Ihnen.«
    »Eine Frau und einen Sohn – der Junge ist seit kurzem auf dem College. Mit Deborah habe ich gerade telefoniert und ihr alles erzählt.«
    »Wenn Sie wieder mit ihr telefonieren, sagen Sie ihr, dass ich zu ihr kommen werde.«
    »Selbstverständlich.«
    »Was hat Ihr Sohn beruflich gemacht?«
    »Er war Anwalt und als solcher auf Corporate Relations, also auf Unternehmensbeziehungen spezialisiert.«
    Bosch wartete auf mehr, aber das war alles, was kam.
    »Corporate Relations? Was hat man sich darunter vorzustellen?«
    »Er stellte Kontakte her, half Projekte auf den Weg zu bringen. Leute kamen zu ihm. Davor hat er für die Stadt gearbeitet. Zuerst als Cop, dann für den City Attorney.«
    »Hatte er ein Büro?«
    »Ja, ein kleines. Downtown. Vor allem aber hatte er ein Handy.«
    »Wie hieß seine Kanzlei?«
    »Das war keine Kanzlei. Er war zwar Anwalt, war aber nicht mehr als solcher tätig. Wie bereits gesagt, half er, Projekte auf den Weg zu bringen. Seine Firma hieß Irving und Partner – nur dass es keine Partner gab. Es war ein Einmannbetrieb.«
    Bosch wusste, dass er darauf zurückkommen müsste. Aber es brächte nichts, Irving auf den Zahn zu fühlen, solange er die nötigen Basisfakten noch nicht hatte, um die
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