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Der Weg in die Dunkelheit 2: Die Wächterin

Der Weg in die Dunkelheit 2: Die Wächterin

Titel: Der Weg in die Dunkelheit 2: Die Wächterin
Autoren: Erika O'Rourke
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Mütze auf den Kopf. Während er zur Treppe hinüberging und seinen Gehstock fröhlich hin und her schwenkte, rief er über die Schulter: » Ich habe gefunden, wen ich gesucht habe.«
    Meine Hand krampfte sich fester um den Riemen meiner Tasche, und ich stand reglos da, bis er außer Sicht war.
    » Bibliothek«, sagte Lena und stieß mich an.
    Während Schwester Agatha Bücher in die Regale einräumte und die Stirn über unser geflüstertes Gespräch runzelte, schnappten wir uns einen Computer und taten so, als ob wir die PowerPoint-Präsentation für unser Referat noch einmal durchgehen würden.
    » Was ist mit dem anderen Typen? Von diesem Herbst?«, fragte Lena, als Schwester Agatha zwischen den Regalen davongewankt war. » Bitte ihn doch, mit zum Tanzen zu kommen.«
    » Er ist weg.« Es laut auszusprechen fühlte sich an, als würde eine Tür in mir zuschlagen. Weg war gut, wie ich mir ins Gedächtnis rief.
    Mein Ton muss allerdings zu unwirsch gewesen sein, denn Lena hakte nicht weiter nach, sondern sah stattdessen ihre Notizen für unser Geschichtsreferat weitaus sorgfältiger durch als nötig.
    Ich bekam ein schlechtes Gewissen. Lena war schlau und wirklich nett und so gut wie die einzige Person an der St.-Brigid-Schule, die mich nicht wie eine Aussätzige behandelte. Seit der Ermordung meiner besten Freundin gingen mir alle aus dem Weg, als wäre Trauer ansteckend. Ich wollte nicht auch noch Lena in die Flucht schlagen.
    » Wir könnten nach dem Ball etwas unternehmen. Du könntest bei mir übernachten, wenn du noch keine anderen Pläne hast«, sagte ich.
    Sie taute auf. » Das klingt gut. Bist du sicher, dass du nicht hingehen willst?«
    Ich schüttelte den Kopf, und sie seufzte. » Okay. Dann übernachte ich also danach bei dir. Sag mal, hast du eigentlich deine Bewerbung für die NYU abgeschickt?«
    Ich schluckte und bemühte mich, nicht trotzig zu klingen. » Äh … noch nicht.«
    » Was?« Sie wirkte aufrichtig erschrocken. » Ich weiß, dass dein Vorstellungsgespräch eine Katastrophe war, aber sie werden doch sicher Verständnis dafür haben.«
    » Katastrophe« war noch untertrieben. Ich war mitten in einer Frage gegangen. Aus gutem Grund, aber nicht aus einem, den ich der Collegevertreterin hätte erklären können, die ich zu beeindrucken versucht hatte. Das hatte mir die Chance auf eine vorzeitige Zulassung vermasselt, und vielleicht auch die, überhaupt an der New York University angenommen zu werden.
    » Du hast es dir doch nicht anders überlegt? Du willst immer noch hin, oder? Ihr habt schließlich seit der neunten Klasse immer von der NYU geredet, du und …« Sie brach ab. » Du und Verity. Jetzt verstehe ich!«
    Das tat sie beim besten Willen nicht, und es gab keine Möglichkeit, ihr das zu erklären. Verity und ich hatten immer geplant, in New York aufs College zu gehen, wir beide zusammen, um die zwielichtige Geschichte meiner Familie und ihre bilderbuchperfekte hinter uns zu lassen. Jetzt war Verity tot, und ich war übrig geblieben. Trotz der Gerüchte hatte ich das Vorstellungsgespräch nicht absichtlich sabotiert, um mir selbst ein Bein zu stellen. Ich war gegangen, weil die Rache für Veritys Tod mir wichtiger gewesen war, ganz gleich, wie gern ich an meine Traum-Uni wollte. Die Rache hatte ich bekommen, und jetzt musste ich in meinem Leben wieder Normalität schaffen.
    Ich war derzeit kaum in der Lage, mir Normalität auch nur vorzustellen. Ich wusste, wie sie hätte aussehen sollen: Verity und ich, wie wir einen Schaufensterbummel in den schicken Boutiquen am Wicker Park machten, die sie so mochte, wie wir beim Sushi-Essen Collegestudenten beäugten, wie wir uns in New-York-Reiseführer versenkten und unsere große Flucht planten. Aber diese Welt war an dem Tag verschwunden, an dem Verity gestorben war. An ihre Stelle war eine Welt voll uralter Magie getreten, gefährlich schön und voller Geheimnisse, samt einem dazu passenden Jungen. Wir hatten seine Welt gerettet, und ich hatte ihn seitdem nicht mehr gesehen. Jeden Tag rief ich mir ins Gedächtnis, wie wenig ich ihn vermisste.
    Nach allem, was ich gesehen und getan hatte, war ich mir nicht mehr sicher, wie ich wieder ein normales Leben führen sollte. Ich war mir noch nicht einmal sicher, ob ich es überhaupt wollte.
    Aber eines stand fest: Normalität würde sich hier, in Chicago, im Schatten meiner Familie nicht einstellen. Ich musste in New York sein, wo die Menschen sich tagtäglich selbst neu erfanden. Das hatten Verity und
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