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Der Wanderchirurg

Der Wanderchirurg

Titel: Der Wanderchirurg
Autoren: Serno Wolf
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schüttelte heftig den Kopf, schnaubte und schmatzte und riss die Schnauze mehrmals auf, während er mit der Pfote von außen gegen die Stelle fuhr. Plötzlich schoss ein gelblicher Strahl zur Erde und zeigte an, dass die Operation geglückt war.
    »Siehst du, die schlechten Säfte fließen schon ab, gleich geht es ihm besser«, versicherte der junge Mann.
    »Ich kann's gar nicht glauben, dass es wieder gut sein soll«, stammelte der Knabe, »ich danke Euch, Vater, ich danke Euch so sehr ...«
    »Mach nicht so große Worte.« Der Jüngling legte dem Knaben die Hand auf die Schulter. »Und sag nicht »Vater« zu mir. Das Schlimmste ist jetzt vorbei. Die Wunde wird sich in zwei oder drei Tagen schließen. Bis dahin fließt noch ein paar Mal Eiter ab, aber das ist normal. Lass Pedro jetzt für eine Weile in Ruhe, dann kann er dir schon morgen wieder beim Hüten deiner Herde helfen.«
    Über die energischen Gesichtszüge des jungen Mannes huschte ein Lächeln. Er gab dem Hund einen leichten Klaps und wandte abrupt den Kopf, denn draußen hatte ein großes Geschrei angehoben. Er konnte zwar nichts Genaues verstehen, aber er hörte mehrfach seinen Namen:
    »Vitus!«

    Nacheinander betraten sie die Sterbekammer. Gaudeck, Thomas, Cullus und zuletzt Vitus. Schweigend stellten sie sich an der Längsseite des Raums auf und bekreuzigten sich angesichts des kleinen Kruzifixes, das über dem Lager hing. Dann senkten sie die Köpfe.
    »Setzt nicht solche Leichenbittermienen auf, Brüder, nur weil ich bald dem Erhabenen gegenüberstehe!«, kam es aufmunternd aus der anderen Ecke. Abt Hardinus winkte sie mit der Hand heran. »Wenn ich nicht irre, schreiben wir heute Dienstag, den 13. März im Jahre des Herrn 1576, und dieser Tag ist wunderbar - wie jeder Tag, den der Allmächtige werden lässt. Mein Tod ändert daran überhaupt nichts!«
    »So solltet Ihr nicht sprechen, Ehrwürdiger Vater.«
    Pater Cullus hob sein rosiges Gesicht. Er hatte sich als Erster gefangen. »Bedenkt nur, was Ihr noch alles in Eurem Leben schaffen wolltet. Und vergesst nicht, es ist allein Euer Verdienst, dass dieses Kloster als ein Hort der Frömmigkeit, der Gelehrsamkeit und des Friedens gilt!«
    »Unsinn, Bruder.« Die Stimme von Hardinus klang überraschend kräftig: »Wie kannst du nur glauben, alles sei mein Verdienst?
    In diesem Kloster leben einhundertvierundzwanzig Mönche, neun Novizen und elf Pueri oblati. Alle tun ihre Arbeit und loben den Herrn. Und da soll ich allein wichtig sein? Nein, Schluss damit!«
    Hardinus winkte den dicken Mönch heran. »Klage nicht, Bruder, sondern freue dich. Und hole mir einen Becher Wasser, es gibt noch manches zu sagen.«
    Cullus schniefte, murmelte eine Entschuldigung und eilte hinaus.
    »Er trägt sein Herz auf der Zunge, aber ich liebe ihn dafür«, sagte Hardinus lächelnd. »Ich liebe euch alle, kein Mensch ist ohne Schwächen. Ich selbst bin der beste Beweis dafür. Ich bin so schwach, dass mein Körper euch noch in dieser Stunde verlassen wird. Aber mein Geist wird weiter bei euch sein.« Er musterte Gaudeck, Thomas und Vitus, und ihm wurde bewusst, wie jung sie waren. Selbst Pater Thomas, der Älteste unter ihnen, war mehr als dreißig Jahre später als er geboren. Doch was waren schon dreißig Jahre! Seine Gedanken begannen zurückzuwandern in eine Zeit, da er selbst noch ein junger Mann war, vor fünfundsiebzig Jahren ...
    Damals, im Juli anno 1501, war er über das Asturische Hochgebirge hinunter an den Golf von Biscaya gekommen. Ein 600-Meilen-Fußmarsch hatte hinter ihm gelegen, von Pamplona am Fuß der Pyrenäen quer durch den Norden Spaniens, westwärts, den beschwerlichen Jakobsweg entlang, durch Burgos und Leon und viele andere Städte, bis hin nach Santiago de Compostela, den Ort des heiligen Jakobs, wo die Wallfahrer sich seit Hunderten von Jahren in der Kathedrale treffen. Dort hatte er das ersehnte Zertifikat empfangen, das ihn zum echten Jakobspilger machte - die Garantie, dass ihm zweihundert Tage des Fegefeuers erlassen werden würden.
    Doch nachdem das erste Glücksgefühl gewichen war, hatte sich ein sehr irdisches Problem bei ihm gemeldet: der Hunger. Er war kein Pilger mehr, und die Leute gaben ihm nicht länger Almosen. Das Einzige, was er noch besessen hatte, waren die drei Begleiter des Jakobspilgers: der kräftige, mannshohe Wanderstab, der gleichzeitig Waffe gegen Wölfe und Wegelagerer ist, der Kürbis als Flüssigkeitsbehältnis und die Jakobsmuschel, die als Löffel dient. Von
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