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Der Wanderchirurg

Der Wanderchirurg

Titel: Der Wanderchirurg
Autoren: Serno Wolf
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Menschen dein medizinisches Wissen mündlich vermittelst - in ihrer Umgangssprache. Es ist zwar in vielen Familien üblich, dass die Mutter ihre Hausrezepte an die Tochter weitergibt und diese wiederum an ihre Tochter. Ein gewisses Grundwissen darf also vorausgesetzt werden. Dennoch ist die Hausmedizin etwas, das sich nur auf die Erfahrungen der Alten verlässt und neue Erkenntnisse nahezu ausschließt. Die Menschen aber sollen nach dem Neuen fragen: nach besseren, wirksameren Behandlungsmöglichkeiten. Nicht jedes böse Leiden muss gottgewollt zum Tode führen. Du, Thomas, sollst derjenige sein, der sie anleitet. So werden sie lernen, was bei Krankheiten, die sie bislang nicht heilen konnten, zu tun ist. Was hältst du von meinem Vorschlag?«
    »Nun, Ehrwürdiger Vater ...« Pater Thomas versuchte, sich für den Plan zu erwärmen. Eine Schule aufbauen und Unterricht abhalten! Wenn das so einfach wäre! Bei den Pueri oblati, jenen Knaben, die unter der Obhut des Klosters standen, damit sie etwas lernten und den Weg zum rechten Glauben fanden, lag der Fall anders: Die beherrschten leidlich Latein und hatten schon einen gewissen Bildungsgrad. Aber die Menschen da draußen? Immerhin, man konnte zunächst mit einer kleinen Klasse beginnen. Allerdings würde der Unterricht Zeit kosten. Zeit, die er eigentlich für seine Forschung brauchte. Andererseits, die Überlegungen des Abtes waren nicht von der Hand zu weisen ...
    »Ich stimme Euch zu«, sagte er schließlich. »Ich denke an einen Unterricht nach athenischem Vorbild, bei dem die Erkenntnisse in freier Rede und Gegenrede erarbeitet und auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Das scheint mir didaktisch am sinnvollsten. Der Unterricht sollte winters in einem überdachten Raum stattfinden. Sommers und bei schönem Wetter dagegen im Klostergarten unter der alten Platane.« Er ertappte sich dabei, wie er sich vorstellte, als eine Art Sokrates inmitten seiner Schüler zu sitzen. Der Gedanke gefiel ihm. »Schau einfach dem Volk aufs Maul, und sprich mit ihnen über das, was du weißt«, lächelte Hardinus und unterbrach damit Thomas' gedanklichen Höhenflug. »Äh ... jawohl, Ehrwürdiger Vater.«
    »Aber auch die Kunst des Lesens sollte unterrichtet werden.«
    »Den Leseunterricht könnteich übernehmen!«,schaltete sich Pater Cullus eifrig ein. »Und natürlich auch den Schreibunterricht, denn beides ist gleich wichtig einzuschätzen. Ich kann mich noch genau entsinnen, wie eine alte Frau im letzten August einen Gemüsehändler fragte, ob seine Pferdebohnen auch wirklich frisch seien.
    Aber natürlich, gute Frau, antwortete der mit treuherzigem Augenaufschlag und deutete auf zwei Wörter, die an seinem Karren standen, hier steht es. Er las die Wörter einzeln vor: Frische Pferdebohnen«. Natürlich hätte jeder, der des Lesens mächtig ist, den Schwindel sofort durchschaut. Dort stand Jose Gonzales, also nichts weiter als der Name des Schwindlers.«
    »Ich danke dir für diese Geschichte, Cullus«, sagte der Abt leise, »ein besseres Beispiel für die Bedeutung des Leseunterrichts hättest du nicht geben können. Was jetzt noch fehlt, ist jemand, der dem Volk das Rechnen beibringt.« Fragend schaute er Gaudeck an.
    »Ehrwürdiger Vater, diese Aufgabe werde ich übernehmen.«
    »Aber eines ist dabei sehr wichtig, mein lieber Gaudeck.« In den Augen des alten Mannes blitzte Schalk auf.
    »Ja, Ehrwürdiger Vater?«
    »Lass Gnade walten beim Unterricht. Vergiss nie, es sind Unwissende, von denen viele gerade nur so weit zählen können, wie sie Finger an den Händen haben.«
    »Gewiss, Ehrwürdiger Vater. Doch beispielsweise die Winkelfunktionen ...«
    »Gnade, Gaudeck! Lehre sie einfach, Zahlen zusammenzuzählen, voneinander abzuziehen, malzunehmen und zu teilen. Das genügt, um auf dem Wochenmarkt nicht betrogen zu werden.«
    Hardinus' Atem rasselte. »Komm, gib mir noch etwas von dem Wasser, das Cullus gebracht hat.« Gaudeck setzte ihm behutsam den Becher an die Lippen. Der alte Abt trank langsam, mit kleinen vorsichtigen Schlucken. Sein Gesicht, einst von kraftvollen Zügen geprägt, wirkte jetzt wie eine Totenmaske. Er spürte, dass seine Füße bereits abgestorben waren und dass die Kälte unaufhaltsam in seinen Beinen hochkroch. Aber noch steckte Leben in ihm. Und das, was er zu sagen hatte, würde er auch zu Ende bringen.
    »Höret, Brüder«, sagte er, bemüht, trotz seiner Schwäche deutlich zu sprechen, »die Dinge, die mir am Herzen liegen, sind damit fast alle
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