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Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Titel: Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)
Autoren: Bernhard Schlink
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Hinter Eppelheim waren die Gleise nicht in, sondern neben der Straße auf einem geschotterten Damm verlegt. Die Bahn fuhr schneller, mit dem gleichmäßigen Rattern einer Eisenbahn. Ich wußte, daß die Strecke durch weitere Orte und schließlich nach Schwetzingen führte. Aber ich fühlte mich ausgeschlossen, ausgestoßen aus der normalen Welt, in der Menschen wohnen, arbeiten und lieben. Als sei ich verdammt zu einer ziel- und endlosen Fahrt im leeren Wagen.
    Dann sah ich eine Haltestelle, ein Wartehäuschen auf freiem Feld. Ich zog die Leine, mit der die Schaffner dem Fahrer signalisieren, daß er anhalten soll oder losfahren kann. Die Bahn hielt. Weder Hanna noch der Fahrer hatten auf das Klingelzeichen hin nach mir geschaut. Als ich ausstieg, war mir, als sähen sie mir lachend zu. Aber ich war nicht sicher. Dann fuhr die Bahn an, und ich sah ihr nach, bis sie zuerst in einer Senke und dann hinter einem Hügel verschwand. Ich stand zwischen Damm und Straße, ringsum waren Felder, Obstbäume und weiter weg ein Gärtnereibetrieb mit Gewächshäusern. Die Luft war frisch. Sie war erfüllt vom Zwitschern der Vögel. Über den Bergen leuchtete der weiße Himmel rosa.
    Die Fahrt in der Bahn war wie ein böser Traum gewesen. Wenn ich das Nachspiel nicht in so deutlicher Erinnerung hätte, wäre ich versucht, sie tatsächlich für einen bösen Traum zu halten. An der Haltestelle stehen, die Vögel hören und die Sonne aufgehen sehen war wie aufwachen. Aber das Aufwachen aus einem bösen Traum muß einen nicht erleichtern. Es kann einen auch erst richtig gewahr werden lassen, was man Furchtbares geträumt hat, vielleicht sogar welcher furchtbaren Wahrheit man im Traum begegnet ist. Ich machte mich auf den Weg nach Hause, mir liefen die Tränen, und erst als ich Eppelheim erreichte, konnte ich aufhören zu weinen.
    Ich machte den Weg nach Hause zu Fuß. Ein paarmal versuchte ich vergebens zu trampen. Als ich die Hälfte des Wegs geschafft hatte, fuhr die Straßenbahn an mir vorbei. Sie war voll. Ich sah Hanna nicht.
    Ich erwartete sie um zwölf auf dem Treppenabsatz vor ihrer Wohnung, traurig, ängstlich und wütend.
    »Schwänzst du wieder Schule?«
    »Ich habe Ferien. Was war heute morgen los?« Sie schloß auf, und ich folgte ihr in die Wohnung und in die Küche.
    »Was soll heute morgen los gewesen sein?«
    »Warum hast du getan, als kennst du mich nicht? Ich wollte …«
    »Ich habe getan, als kenne ich dich nicht?« Sie drehte sich um und sah mir kalt ins Gesicht. »Du hast mich nicht kennen wollen. Steigst in den zweiten Wagen, wo du doch siehst, daß ich im ersten bin.«
    »Warum fahre ich am ersten Tag meiner Ferien um halb fünf nach Schwetzingen? Doch nur weil ich dich überraschen wollte, weil ich dachte, du freust dich. In den zweiten Wagen bin ich …«
    »Du armes Kind. Warst schon um halb fünf auf, und das auch noch in deinen Ferien.« Ich hatte sie noch nie ironisch erlebt. Sie schüttelte den Kopf. »Was weiß ich, warum du nach Schwetzingen fährst. Was weiß ich, warum du mich nicht kennen willst. Ist deine Sache, nicht meine. Würdest du jetzt gehen?«
    Ich kann nicht beschreiben, wie empört ich war. »Das ist nicht fair, Hanna. Du hast gewußt, du mußtest wissen, daß ich nur für dich mitgefahren bin. Wie kannst du dann glauben, ich hätte dich nicht kennen wollen? Wenn ich dich nicht hätte kennen wollen, wäre ich gar nicht mitgefahren.«
    »Ach, laß mich. Ich hab dir schon gesagt, was du machst, ist deine Sache, nicht meine.« Sie hatte sich so gestellt, daß der Küchentisch zwischen uns war, ihr Blick, ihre Stimme und ihre Gesten behandelten mich als Eindringling und forderten mich auf zu gehen.
    Ich setzte mich aufs Sofa. Sie hatte mich schlecht behandelt, und ich hatte sie zur Rede stellen wollen. Aber ich war gar nicht an sie herangekommen. Statt dessen hatte sie mich angegriffen. Und ich begann, unsicher zu werden. Hatte sie vielleicht recht, nicht objektiv, aber subjektiv? Konnte, mußte sie mich falsch verstehen? Hatte ich sie verletzt, ohne meine Absicht, gegen meine Absicht, aber eben doch verletzt?
    »Es tut mir leid, Hanna. Alles ist schiefgelaufen. Ich habe dich nicht kränken wollen, aber es scheint …«
    »Es scheint? Du meinst, es scheint, du hast mich gekränkt? Du kannst mich nicht kränken, du nicht. Und gehst du jetzt endlich? Ich habe gearbeitet, ich will baden, ich will meine Ruhe haben.« Sie sah mich auffordernd an. Als ich nicht aufstand, zuckte sie mit den
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